Organentnahme verhindert menschenwürdiges Sterben und raubt den letzten Abschied

Der Philosoph Hans Jonas, der die Anfänge der Organtrans­plan­ta­tion in den USA erlebt hat, beze­ich­nete diese neue Medi­zin später als Vivisek­tion und lehnte sie als inhu­man ab. Nach­dem er verge­blich gegen die Gle­ich­set­zung von „Hirn­tod“ mit dem Tod des Men­schen gekämpft hat­te, sagte er, dass wohl nur die Zeug­nisse von Betrof­fe­nen, speziell von Müt­tern, ein Umdenken bewirken kön­nten.

Das habe ich nicht gewusst! Organspende, dachte ich, muss etwas Gutes sein, wenn es kranken Men­schen hil­ft am Leben zu bleiben. Und natür­lich ist der Men­sch tot, dem die Organe ent­nom­men wer­den. Im Ausweis heißt es doch “nach meinem Tod”. So habe ich das auch geglaubt. Ich hätte nie für möglich gehal­ten, dass Ärzte nicht davor zurückschreck­en, einen ster­ben­den Men­schen mit allen Mit­teln ärztlich­er Kun­st am Leben zu hal­ten, nur damit sie seine leben­den Organe bekom­men. Aus dem schreck­lichen Geschehen um das Ster­ben meines Sohnes kann ich jedoch bezeu­gen, dass es sich bei einem so genan­nten Hirn­toten um einen noch leben­den Men­schen han­delt.

Was war bei uns geschehen?

Unser Sohn Lorenz verunglück­te im Urlaub. Er war ein fast 16 jähriger Junge, so groß gewor­den, witzig, voller Leben­skraft und Lebens­freude. Wir macht­en gemein­sam mit unseren vier Kindern und Kindern aus der Ver­wandtschaft Ski­urlaub. Es war an einem wun­der­schö­nen son­ni­gen Tag, als Lorenz am Ende ein­er Piste unglück­lich stürzte und mit dem Hin­terkopf auf einen Stein auf­schlug. Er hat­te sich eine schwere Kopfver­let­zung zuge­zo­gen. Voller Ban­gen fuhren wir ins Kranken­haus und waren sehr erle­ichtert, als wir ihn wieder sahen und in sein völ­lig unver­let­zt ausse­hen­des Gesicht schaut­en. Es wies keine Schramme, keine Blut­spur, noch nicht ein­mal einen Bluter­guss auf. Das einzig Bedrohliche war die kün­stliche Beat­mung.

So begrif­f­en wir auch nicht die Aus­sicht­slosigkeit der Sit­u­a­tion, als ein jün­ger­er Arzt uns kurz − im Ste­hen − den wahren Zus­tand mit­teilte. Ich wachte am Bett meines Sohnes, hielt seine große Hand und kon­nte nur das Eine denken: Er würde die Augen wieder auf­machen.

Dafür betete ich inbrün­stig. Am näch­sten Mit­tag – es waren 18 Std. nach sein­er Ein­liefer­ung ver­gan­gen und kein Arzt hat­te sich seit­dem mehr sehen lassen, um mit uns ein Gespräch zu führen – erschien der Che­farzt der Inten­sivs­ta­tion mit einem Kol­le­gen im Kranken­z­im­mer. Ich musste draußen vor der Tür warten. Als er wieder her­auskam, zögerte er zunächst, kam auf mich zu und fragte, ob ich die Mut­ter sei. Er sagte dann qua­si im Vor­beige­hen und zu einem Zeit­punkt, als der “Hirn­tod” über­haupt noch nicht fest­gestellt war, er müsse mir bedauer­licher­weise mit­teilen, dass mein Kind tot sei. Dabei benutzte er nicht das Wort Hirn­tod. Die Appa­rate müssten am näch­sten Mor­gen abgestellt wer­den. Bis dahin soll­ten wir bitte über­legen, ob wir Organe spenden kön­nten. Gebraucht wür­den Herz, Leber, Nieren, Augen. Er zählte noch weit­ere Organe auf. Damit ließ er mich ste­hen und ver­schwand. Das Ganze fand auf dem Flur im Ste­hen statt, als mein Mann ger­ade abwe­send war. Das Gespräch dauerte höch­stens zwei Minuten.

Mich überkam für einen Moment ein großes Zit­tern, ich suchte Halt, dann war alles wie aus­gelöscht. Unser Kind war trotz dieser Todesmit­teilung völ­lig unverän­dert. Es wurde weit­er behan­delt, gebet­tet, es bekam Medika­mente, seine volle Urin­flasche wurde gewech­selt. Ich dachte natür­lich, alles geschehe zu sein­er Heilung. Auf sie hoffte ich nach wie vor fest. Erst später erfuhr ich, dass zu diesem Zeit­punkt  schon die so genan­nte Spenderkon­di­tion­ierung begonnen hat­te, das hieß, die Behand­lung mit all den Stra­pazen für einen schw­er kranken Men­schen war nicht mehr zu seinem Nutzen, son­dern zu dem eines unbekan­nten Organempfängers.

Unser Kind war in den Augen der Ärzte nicht mehr der Men­sch Lorenz. Ihr Blick und ihr Han­deln hat­ten  ihm bere­its seine Men­schen­würde genom­men und ihn  zum Mate­r­i­al zur Weit­er­ver­ar­beitung gemacht.  In seinen Unter­la­gen, an die wir nur mit Hil­fe eines Recht­san­waltes kamen, liest sich das so:

Die Eltern sahen dann den Kör­p­er des ver­stor­be­nen Patien­ten, der aber weit­er­hin kün­stlich beat­met wurde bei spon­tan­er Herzfre­quenz”(…). “Es scheint, dass die Eltern nicht ver­standen, dass, als sie ihren Sohn gese­hen haben, dieser bere­its tot war”.

Wir also waren die Dum­men! Doch wir nah­men wahr, was wahr war, näm­lich unser leben­des Kind. Es war durch­blutet, es bekam einen Hau­tauss­chlag, der später wieder ver­schwand, sein Bein bewegte sich auf Berührung hin. Wie grotesk! Ich glaubte keinen Moment an seinen Tod, hoffte weit­er­hin und hielt seine warme Hand!

Nach ein­er weit­eren durchwacht­en Nacht wur­den wir erneut mit der Frage nach den Orga­nen gequält. Wir fühlten uns völ­lig hil­f­los und aus­geliefert. Man set­zte uns eine Frist von ein­er hal­ben Stunde, in der wir uns entschei­den soll­ten. Statt am Bett zu sitzen, gaben wir dem Druck nach, ließen unser Kind allein und zer­brachen uns den Kopf über das, was wir tun soll­ten. Aber im Grunde kon­nten wir keinen klaren Gedanken fassen. Was sollte das alles, das war doch ein bös­er Spuk und unser Kind würde bes­timmt wieder gesund, dachte ich. Nach der verord­neten Zeit kam der Arzt zurück, fragte, ob wir uns entsch­ieden hät­ten, und zählte erneut die Organe auf, die gebraucht wür­den. Er forderte uns mit Nach­druck auf, uns zu entschei­den.

Zusät­zlich­er Druck kam durch den inzwis­chen erschiene­nen Kranken­hausseel­sorg­er auf. Er hielt sich zwar son­st zurück, gab aber unmissver­ständlich zu ver­ste­hen, dass aus  dieser Sit­u­a­tion her­aus ein ander­er Men­sch gerettet wer­den könne. Ihm ging es nicht um die Für­sorge für uns und nicht um die Frage: “Was brauchen diese Eltern und ihr ster­ben­des Kind jet­zt?” Er nahm unsere Not gar nicht wahr und seinem eigentlichen seel­sorg­er­lichen Auf­trag, unser Kind und uns zu begleit­en, kam er nicht nach. Er diente den Ärzten und unbekan­nten Drit­ten statt uns, seinen Näch­sten.

Wenn ich an diese Sit­u­a­tio­nen denke, bin ich noch heute empört. Damals befand ich mich nach zwei durchwacht­en Nächt­en in einem unerträglichen Zus­tand. Ich fühlte mich schuldig, weil mein Kind  ster­ben sollte. Mein ganzes Selb­st­wert­ge­fühl war zusam­menge­brochen. Was hat­te ich getan, dass so ein Unglück über mich kam? Ich wusste nicht aus noch ein. Wie in einem Schraub­stock, der sich immer enger um mich zog und mir die Luft weg­nahm, emp­fand ich mich. Und wenn ich nicht ein­willi­gen würde, wäre ich auch noch schuldig am Tod eines anderen. Ich wollte ja auch nicht, dass noch jemand in so eine elende Lage käme.

Erst später wurde mir klar, was hier so sub­til abge­laufen war. Wegen mein­er eige­nen Schuldge­füh­le hat­te ich Angst, noch mehr Schuld auf mich zu laden, wenn ich nicht ein­willi­gen würde. Es stand dazu im Raum, dass man doch mit so ein­er schlim­men Sit­u­a­tion noch etwas Gutes tun könne, dass eine Ein­willi­gung in die Orga­nent­nahme diese unerträgliche Sit­u­a­tion “sin­nvoll” been­den würde, und dass einem der Anblick des ster­ben­den, bewusst­losen Kindes weit­er­hin erspart bleibe. So würde dem Tod ein Schnip­pchen geschla­gen. Das Kind lebte ja in anderen weit­er, das sei doch Trost, und du und dein Kind – ihr seid Helden! Dies alles sug­geriert die Trans­plan­ta­tion­s­medi­zin und raubt unter dem Deck­man­tel der Näch­sten­liebe dem Ster­ben­den und den Ange­höri­gen die Begleitung und den let­zten, kost­baren Abschied.

Wir rangen uns endlich zur Freiga­be der Nieren durch. Aber selb­st danach wur­den wir weit­er bedrängt. Mehrfach kam zulet­zt die Frage, wenig­stens die Augen noch freizugeben, bis mein Mann schrie: “Nein,nein!”

Beschrei­bung ein­er Niere­nent­nahme von ein­er Kranken­schwest­er:

Der „richtige Tod“ des hirn­toten Patien­ten (!) kann auf ver­schiedene Weise erfol­gen, denn die Tode­sart ist von den freigegebe­nen Orga­nen und in der Rei­hen­folge ihrer Explan­ta­tion fest­gelegt:

Wenn das Herz ent­nom­men wird, dann ist man am schnell­sten tot“, so die Kranken­schwest­er.
„Also so richtig tot. Das geht ruck­zuck, in einem Moment ist er noch rosig, im näch­sten liegt er da wie eine richtige Leiche. Bei ein­er Niere­nent­nahme dauert es viel länger.“

Das Herzster­ben eines „hirn­toten“ Patien­ten nach ein­er Niere­nent­nahme empfind­et die Kranken­schwest­er als beson­ders unerträglich. Der Spender blutet bis zum let­zten Herz­schlag aus, wobei sich die ver­langsamte Rhyth­mik auf dem Mon­i­tor abbildet und akustisch hör­bar ist: „Der Patient liegt auf dem Tisch, er ist noch rosig, er atmet noch, das Herz schlägt, und plöt­zlich wird er langsam blaß, weil er aus­blutet. Und das dauert und dauert und dauert, das Herz schlägt immer noch und hört nicht auf. Man muß ja den Mon­i­tor dran­lassen. Eigentlich sind die Oper­a­teure fast fer­tig und gehen weg, und wenn die Spender junge Leute sind, arbeit­et das Herz wom­öglich noch.“

Her­zlos­er Tod – Das Dilem­ma der Organspende
von Ulrike Bau­re­i­thel & Anna Bergmann,
S. 174

Wir sind völ­lig unin­formiert in unserem schwäch­sten Moment in eine Ein­willi­gung manip­uliert wor­den, deren Fol­gen wir gar nicht abse­hen kon­nten. Bei unser­er Entschei­dung waren wir der Mei­n­ung, die Nieren wür­den nach dem Abstellen der Appa­rate ent­nom­men. Wir erfuhren dann, dass das nicht gin­ge, waren aber auch nicht in der Lage zu fra­gen, was es denn konkret heiße, die Nieren zu ent­nehmen.

Wir bestanden lediglich darauf, nach der Ent­nahme wiederzukom­men, um noch ein­mal bei unserem Kind zu sein. Es war ganz und gar unbe­grei­flich. Irgend­wie habe ich nur funk­tion­iert und nach wie vor alles für einen Alb­traum gehal­ten. Um uns zu beruhi­gen und zu ver­hin­dern, dass wir unsere Entschei­dung wider­rufen wür­den, erhiel­ten wir die Zusicherung, unser Kind würde auf der Sta­tion aufge­bahrt und wir hät­ten genug Zeit zum Abschied­nehmen.

Es hat mich lange gequält, an dieser Stelle ver­sagt und nicht Partei für mein ster­ben­des Kind ergrif­f­en zu haben. Dass ich mir das alles habe bieten lassen und die Ärzte nicht ein­fach aus dem Kranken­z­im­mer hin­aus­ge­jagt habe, lag daran, dass ich mich im Schock­zu­s­tand befand, hand­lung­sun­fähig und sel­ber schutzbedürftig war.

Als wir Stun­den später ins Kranken­haus zurück­ka­men, hat­te ich das Gefühl, jet­zt sehe ich Lorenz wieder und der Alp­traum ist vor­bei. Doch es fol­gte ein weit­er­er Schock. Unser Kind war nicht mehr da. Die dien­sthabende Schwest­er wusste nichts von uns und dem Ver­sprechen, Lorenz auf der Sta­tion aufzubahren. Wir waren bet­ro­gen wor­den. Für die Ärzte waren wir, nach­dem sie die Ein­willi­gung hat­ten, unin­ter­es­sant. Das zeigt, ihnen war unser Schick­sal gle­ichgültig, es war ihnen nur um die Organe gegan­gen.

Wie angewurzelt und erstar­rt blieben wir ste­hen. Als die Kranken­schwest­er merk­te, sie würde uns nicht mehr los, bat sie uns in einen kleinen Aufen­thalt­sraum. Nach­dem wir dort einein­halb Stun­den gewartet hat­ten – warum? – begleit­ete sie uns in den Leichenkeller. Dort öffnete sie eine der Türen und forderte uns auf hineinzuge­hen und uns zu beeilen, anderen­falls müsse sie uns hier unten allein­lassen. Beim Anblick meines Sohnes glaubte ich zunächst an einen Irrtum. Ich erkan­nte ihn nicht, weil sein zuvor unver­let­ztes Gesicht so entstellt war. Bis dahin hat­te ich schon als Kranken­schwest­er und in der eige­nen Fam­i­lie Ster­bende begleit­et und in das Gesicht von Ver­stor­be­nen geschaut. Ich hat­te keine Berührungsäng­ste und kan­nte den friedlichen und entspan­nten Gesicht­saus­druck, der sich oft bei Ver­stor­be­nen ein­stellt.

Das Gesicht meines Kindes war hinge­gen ganz klein gewor­den, die Lip­pen, seine schö­nen vollen Lip­pen,  waren zusam­menge­presst, der Gesicht­saus­druck sah nach Schmerzen aus. Seine Haare waren nass, die Augen mit Mul­l­la­gen bedeckt und kreuzweise verklebt. Hat­ten sie ihm doch die Augen her­ausgenom­men? Ich wollte nach­se­hen, was sie mit unserem Kind gemacht hat­ten. Daran hin­derte mich mein in Panik ger­aten­er Mann, der Angst hat­te vor dem, was da offen­bar würde. Wir liefen stumm und ohne Abschied von unserem Kind davon, voller Schreck­en und unfähig, uns einan­der mitzuteilen.

Ent­ge­gen den Behaup­tun­gen der Trans­plan­ta­tion­s­medi­zin­er bin ich überzeugt, dass mein Kind bei der Orga­nent­nahme Schmerzen erlit­ten hat. In seinem Ster­ben war ihm noch Schlimmes wider­fahren. Was mich so empört, ist die Grausamkeit: Obwohl man weiß, dass Ster­ben ein sen­si­bler Prozess ist, obwohl man, wenn es nicht um Organspende geht, alles tut, um mit Men­schen in dieser Sit­u­a­tion behut­sam und ein­fühlsam umzuge­hen, obwohl man ihre Schmerzen lin­dert und ihnen die Zusicherung gibt, sie nicht allein zu lassen, auch wenn sie nicht mehr ansprech­bar sind, wird bei der Orga­nent­nahme ein ster­ben­der, wehrlos­er Men­sch mit Unter­suchun­gen gequält, auf die Trage gelegt, in den Oper­a­tionssaal gefahren. In manchen Fällen wird er sog­ar in ein anderes Kranken­haus trans­portiert. Er wird unter Aufrechter­hal­tung der Beat­mung, der Herz- und Kreis­lauftätigkeit einem bar­barischen Akt aus­geliefert.

Aus dem Men­schen Lorenz Mey­er wurde die Num­mer LS 005 – 91.

Und man nimmt ihm auch noch seinen Namen und macht ihn zur Num­mer.

Zu seinem Ende heißt es lap­i­dar: „Ein­stel­lung der Herztätigkeit durch kalte Per­fu­sion und der kün­stlichen Beat­mung.“

In ein­er Mit­teilung an uns heißt es dazu:

Beim Hirn­tod bieten sich dem Neu­rolo­gen zwei Möglichkeit­en:

1. Die klas­sis­che Lösung:
die kün­stliche Hil­fe wird unter­brochen, wom­it der Tod ( des bere­its Toten? ) rasch ein­tritt.

2. Die human­itäre Lösung:
Der Fam­i­lie wird die Organspende vorgeschla­gen.

Das also sollte human sein, was mit Lorenz und uns geschehen war!

Durch die Orga­nent­nahme habe ich meinem Sohn in den let­zten Stun­den seines Lebens nicht zur Seite ste­hen kön­nen. Welche Mut­ter würde ihr Kind im Krankheits­fall ver­lassen? Ich muss damit leben, dass ich es im Ster­ben im Stich gelassen habe. Lorenz selb­st kon­nte nicht mehr rufen: „Bleib bei mir!“ Meinem Brud­er, der zwei Jahre zuvor gestor­ben war, kon­nte ich diesen Wun­sch erfüllen. Er sprach ihn noch aus und ich ver­sprach es ihm. Bei seinem Ster­ben kon­nte ich erfahren, wie viel Trost von ein­er würde­vollen Begleitung aus­ge­ht und wie sehr es in der Trauer hil­ft, einem Men­schen die let­zten Liebes­di­en­ste erwiesen zu haben. Auch geht am Ende oft eine Ahnung davon aus, dass das Leben mit diesem Leben nicht been­det ist. Das alles hat in der Trans­plan­ta­tion­s­medi­zin keinen Stel­len­wert. Ähn­lich ver­hält es sich bei den christlichen Kirchen. In ihren Gesang­büch­ern finde ich Texte für die Begleitung Ster­ben­der bis zulet­zt. Eben­so höre ich Kirchen­vertreter in öffentlichen Reden dafür ein­treten, den Weg eines Ster­ben­den mitzuge­hen bis zulet­zt. Wieso lassen sie bei Organtrans­plan­ta­tion zu, dass der Men­sch in seinem schwäch­sten Moment so entwertet und entwürdigt wird?

Prof. Dr. H.U. Gall­was
(Staat­srechtler in München)
schrieb nach Ver­ab­schiedung
des Trans­plan­ta­tion­s­ge­set­zes
vom Juni 1997:

 Es ist uns let­ztlich nicht gelun­gen, mehr Sym­pa­thie für ein rechtlich beschütztes Ster­ben als für Trans­plan­ta­tion­sin­ter­essen zu weck­en, so hat die Befriedi­gung des Bedarfs Vor­rang vor der Würde des Ster­ben­den erlangt. Wir müssen min­destens auf Zeit damit leben, dass wir uns nur im Einzelfall durch einen Wider­spruch gegen diese mod­erne Form des Kani­bal­is­mus wehren kön­nen.“

(22.10.1997)

Wir wis­sen alle, dass es ein men­schlich­es Urbedürf­nis ist, im Ster­ben nicht ver­lassen zu wer­den und Abschied nehmen zu kön­nen. Schon bei ein­er Reise ist das Abschied­nehmen wichtig! Hier ging es um den let­zten, den endgülti­gen Abschied. Er wurde mir genom­men und ich habe ihn mir nehmen lassen. Das hat die Trauer unendlich ver­schlim­mert und ist quälend bis zum heuti­gen Tag.

Kein Leid eines Drit­ten recht­fer­tigt einen so würde­losen Umgang mit Men­schen in ihrem schwäch­sten Moment. Kein Leid eines Drit­ten recht­fer­tigt, dass bei Ster­ben­den und ihren Ange­höri­gen das Leid ver­größert wird. Kein Leid eines Drit­ten recht­fer­tigt, dass let­zte Liebes­di­en­ste und Abschied­nehmen keinen Wert haben, ein­fach ger­aubt wer­den kön­nen. Ich hätte mein ster­ben­des Kind unbe­d­ingt bis zulet­zt begleit­en und es nach seinem Tod unbe­d­ingt ein let­ztes Mal in die Arme nehmen müssen.

Mein Trost ist, dass die Hos­piz-Bewe­gung weltweit wächst und damit das Bewusst­sein und der Schutz für ster­bende Men­schen. Meine Hoff­nung ist, dass Ärzte die Organtrans­plan­ta­tion als Irrweg erken­nen und ihren Sachver­stand in andere Heilungswege investieren.
Meine Ver­ant­wor­tung ist, meine Erfahrun­gen weit­erzugeben und alles zu tun, dass die Öffentlichkeit über das, was Organspende wirk­lich heißt, aufgek­lärt wird.

Nachtrag 2013

Da man damals scham­los unsere Schock­si­t­u­a­tion aus­genutzt hat­te, woll­ten wir die betr­e­f­fend­en Ärzte zur Ver­ant­wor­tung ziehen. Als wir dazu endlich nach fünf Jahren in der Lage waren, ver­sucht­en wir mit Hil­fe eines Schweiz­er Recht­san­waltes die Her­aus­gabe der Kranke­nak­te unseres Sohnes zu erwirken. Es fol­gte ein jahre­langer Briefwech­sel, in dem das behan­del­nde Kranken­haus und das CHUV (Cen­tre Hos­pi­tal­ier Uni­ver­si­taire Vau­dois) um Her­aus­gabe der Unter­la­gen gebeten wur­den. Für uns endete der belas­tende Briefwech­sel mit der Her­aus­gabe der Kopi­en einiger Doku­mente und ein­er Stel­lung­nahme der Unter­suchungskom­mis­sion, die zu dem Ergeb­nis kam, dass alles recht­mäßig zuge­gan­gen sei. Ich war inzwis­chen an Krebs erkrankt. Wir gaben auf.

21 Jahre nach dem Unfall ent­deck­te ein­er unser­er Söhne, selb­st inzwis­chen Arzt, in den Unter­la­gen den aus­führlichen Befund des Elek­troen­zephalo­gramms (EEG), welch­es bei meinem Sohn Lorenz am Tag der Explan­ta­tion durchge­führt wor­den war; hier ließen sich  neben Spon­tanak­tiv­ität ein­deutige Reak­tio­nen auf Schmerzreize nach­weisen. Im Befund des Neu­rolo­gen wurde aus­drück­lich betont, dass es sich keineswegs um ein Null-Lin­ien-EEG han­delte („il ne s´agit pas d´un tracé nul“). Obwohl dieser Befund auch damals schon nicht mit der Diag­nose Hirn­tod vere­in­bar war und eine Orga­nent­nahme ver­boten hätte, set­zte man sich darüber hin­weg und führte die Explan­ta­tion am gle­ichen Tag durch.

Inzwis­chen wurde eine Strafanzeige wegen Mordes ein­gere­icht.

Nachtrag 2015

Das Strafver­fahren wurde 2015 eingestellt wegen Ver­jährung. Wir hal­ten dies für eine Fehlein­schätzung, da die Ver­jährungs­frist für Mord in der Schweiz im Jahr 2003 von 20 auf 30 Jahre ver­längert wurde und zwar, bevor Lorenz´ Fall im Jahr 2011 ver­jährte. Die dage­gen ein­gelegte Beschw­erde wurde zurück­gewiesen und die Beschw­erde­führerin mit Kosten in Höhe von 2000,00 CHF belastet.

Aus der Akte über Lorenz

Die Inzi­sion (Ein­schnitt) fand um 13:05 Uhr statt und die kalte Per­fu­sion (Ein­stel­lung der Herztätigkeit und der kün­stlichen Beat­mung) wurde um 13:50 Uhr begonnen.

Die Zeit, die für die Ent­nahme von mehreren Orga­nen notwendig ist, beträgt drei bis sechs Stun­den.

Bei der Ent­nahme mehrerer Organe kön­nen bis zu sechs Chirur­gen­teams bei dem Ein­griff ein­be­zo­gen sein.

Die kom­plette Akte des Kranken­haus­es wurde kon­sul­tiert. Ein Oper­a­tionspro­tokoll oder ein Anäs­the­siepro­tokoll enthält diese Akte nicht, weil dieser Akt von ein­er Mannschaft des Trans­plan­ta­tion­szen­trums aus­ge­führt wor­den ist. – Unter­suchungs­bericht über die Orga­nent­nahme

Ein Oper­a­tionspro­tokoll existiert in diesem Fall wirk­lich nicht – Abschluss­bericht

Es befremdet, dass ein solch­er Ein­griff vorgenom­men wird, ohne daß sich ein Ein­trag in der Kranke­nak­te find­en lässt. – Schreiben der Patien­ten­stelle

Fam­i­lie ver­weigert Herz und Leber – Ein­tra­gung des Trans­plan­ta­tion­szen­trums (obwohl nur die Nieren freigegeben waren)

Anäs­the­sisten brin­gen bei chirur­gis­chen Ein­grif­f­en oft ein Pflaster auf den Augen an, damit die Horn­haut während des Ein­griffs nicht aus­trock­net. – (auf unsere Anfrage, ob gegen unseren Willen auch die Augen ent­nom­men wur­den)

Die Trans­plan­ta­tion­sak­tiv­ität geschieht zum Wohle des Patien­ten. Die Orga­nent­nahme ist ein wesentlich­er Teil dieser Aktiv­ität.

Gisela Meier zu Biesen
Gisela Meier zu Biesen

Sohn Lorenz verunglück­te 1991.
Gisela Meier zu Biesen ist Mutter von 4 Kindern, war Lehrerin für
Krankenpflege und bis 2005 Aus­bil­dungsbeauf­tragte im Hos­pizvere­in Rhein-Ahr.