Der Mensch – (k)ein Geheimnis oder die Zwickmühle Gottes

Die schwierige Lage Gottes nannte Wolfdietrich Schnurre seine Fabel.[1] Er spielte wohl damit darauf an, dass während bestimmter europäischer Kriege die Gottesdienste die Bitte um den Sieg enthielten – und zwar auf allen Seiten der Kriegsparteien. Gottes Lage wurde also schwierig.

Was hat das mit unserem Thema zu tun? Ich habe die verbürgte Information, dass ein Arzt zu einem Patienten sagte: „Sie können nur noch beten, dass heute Nacht eine Leber kommt!“ Und bei einer Veranstaltung in einer evangelischen Akademie bekannte ein renommierter Klinikseelsorger, dass er mit Patienten um ein Organ gebetet hat.

Gott in der Zwickmühle: Soll er jetzt einen gesunden Menschen auf der Höhe seines Lebens schwer verunglücken lassen, den Sohn der Familie Meyer, den Sohn der Familie Greinert, den Sohn der Familie Focke, damit ein anderer seine Organe bekommt? Wer hat mehr Anspruch darauf weiter zu leben? Wer ist mehr wert? Oder hat gar einer mehr gesündigt? Ich muss Ihnen sagen, ich bin empört über diese Gedankenlosigkeit, mit der man meint, Gott auf seine Seite ziehen zu können.

In der Zwickmühle befinden sich letztlich ja auch der Patient, der auf ein Organ wartet, und sein Arzt. Sie geraten in die moralische Falle, den Tod eines anderen Menschen mit brauchbaren Organen wünschen zu sollen.

Aber theologisch gesehen überhöht man religiös eine medizinische Technik, nur weil deren Protagonisten mit der Heilsbotschaft in die Öffentlichkeit treten, sie könnten Leben retten.[2]

Diese Heilsbotschaft hat nur allzu viele maßgebliche Führungspersönlichkeiten in den Kirchen dazu verführt, unbedacht auf einen Zug aufzuspringen, der von Atheisten mit einer materialistisch- positivistischen Weltanschauung und einer utilitaristischen Ethik in Gang gesetzt wurde, um eine bisher gültige Tabubarriere zu durchbrechen.

Führende Kirchenleute offerierten denn auch sofort das Gebot der Nächstenliebe, dessen ursprüngliche Intention gar nicht auf die Organspende angewendet werden kann.[3] Mit der Versicherung, es handle sich um einen Akt der Nächstenliebe, wird dieser Tabubruch[4]gegenüber dem potentiellen spendenbereiten Bürger und seinen Angehörigen schön geredet.[5]

Die Schattenseiten dieser medizinischen Technik mussten – mühsam und unter Schmerzen und teilweise heftigen Angriffen und Unterstellungen von Seiten der Befürworter – jene ans Lichtbringen, deren Leiden schlicht übersehen oder absichtlich ausgeblendet wurden. Die Fabel von Wolfdietrich Schnurre verweist aber noch auf eine weitere Perspektive. Wenn der Verfasser die religiöse Vereinnahmung durch militärische Aktionen im Auge hatte, so haben auch führende Theologen sich geschichtsvergessen einer Kriegsrhetorik bedient, die den „Heldentod“ der Söhne des Vaterlandes auf manchen Gedenktafeln mit dem Satz aus dem Johannes-Evangelium religiös überhöht: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“[6] Mit Recht fragte Stefanie Schardien in der Arbeitshilfe der Evangelischen Frauen in Deutschland: „Lässt es sich rechtfertigen, diesen Vers in die Organspende-Debatte einzuspielen?“[7] Mit einer sog. Steinbruch-Exegese bedienten sich die EKD und die Kath. Bischofkonferenz dieses Satzes. Er wurde schlichtweg aus dem Kontext des Evangeliums gerissen. Auch dies halte ich für einen irritierenden Vorgang. Mit verblüffender Ahnungslosigkeit haben die Verantwortlichen sogar jener religiösen Kriegsrhetorik zu neuer Realität verholfen. Prof. Kirste wörtliches Zitat: „Bei optimalem Meldeverhalten ließen sich 400 Spender pro Million Einwohner im Jahr rekrutieren.“[8]

Es ist inzwischen im Internet ein erbitterter Kampf der Befürworter der Organtransplantation gegen die Kritiker im Gange. Und das ist auch nicht verwunderlich. Wie soll man sachlich bleiben, wenn es um die Verteilung von Leben und Tod geht?[9]Mittlerweile wurde von prominenter theologischer Seite viel geschrieben, pro und contra Organtransplantation. Auch Klinikseelsorger setzen sich inzwischen kritischer damit auseinander.[10]

Mir ist aufgefallen, dass die Kirchen sich von bisher wesentlichen theologischen Erkenntnissen verabschiedet haben, die wieder gewonnen werden müssen. Ich will in unserem Zusammenhang nur auf drei davon eingehen: Die biblische Anthropologie von der Leib-Seele-Einheit. Noch der Evangelische Erwachsenenkatechismus von 1975, der mehrere Auflagen erlebt hat, formulierte: „Der Mensch erhält nach biblischen Verständnis durch das Einhauchen des Lebensatems nicht eine Seele in seinen Körper; er wird zu einem lebendigen Wesen. Immer meint das Wort („Seele“) die von Gott dem Menschen gegebene Lebendigkeit, die aber nicht auf die physische Existenz begrenzt werden kann. … Nach dieser Sicht des Menschen ist er so, wie er geschaffen ist, ein in sich einheitliches Wesen. Ausgeschlossen ist, dass er aus zwei oder mehr Grundbestandteilen besteht, ob man sie Körper oder Seele, Geist, Seele und Leib oder wie auch immer nennt.“[11] Ich habe keinen Körper, ich bin Körper, bzw. Leib. Meine Leber, Lunge, mein Kreislauf, Herz, Gehirn, alles ist sozusagen Ich, meine Person, mein individuelles, also unteilbares Wesen, kein zusammengesetztes Puzzle. Man kann dieses Ich nicht irgendwo verorten, auch nicht im Gehirn. Ich bin als Ganzheit ein beseelter Leib. Die menschliche Lebendigkeit an die Hirnfunktion zu binden, ist schöpfungstheologisch äußerst fragwürdig. Dass der Mensch die komplementäre Ganzheit aus Leib und Seele samt allen Gliedern und Organen ist, Individuum und kein Dividuum, darauf weist auch der Theologe Prof. Jörns mit Nachdruck hin. Aber führende Theologen haben sich von diesem christlichen Menschenbild eilfertig verabschiedet. Wie also die biblische Anthropologie plötzlich kompatibel gemacht werden kann mit dem materialistischen, angeblich wissenschaftlichen Bild vom Menschen, der durch den sog. Hirntod („innerlich enthauptet“ ) sein Menschsein verliert, ist für mich theologisch nicht nachvollziehbar. Im Gegenteil, die Leib-Seele-Einheit wurde sehr früh sogar von maßgeblichen Medizinern wie Dr. Bavastro oder dem Herz-Thorax-Chirurgen Prof. Kurt Stapenhorst und anderen bestätigt.

Das Leben eines Menschen ist eine Ganzheit, beginnend mit oder schon vor der Geburt und endend mit dem wichtigen Abschnitt des Sterbeprozesses, bei dem nicht nur unser Kopf allein stirbt. Wie könnten wir als Theologen akzeptieren, dass einem Menschen dieser wichtige letzte Abschnitt zerstückelt und die Abrundung seines Lebens verhindert wird, damit man seine Organe herausschneiden kann?[12]

Die pastorale Verpflichtung, Sterbende und Angehörige zu begleiten zu einem würdigen und behüteten Sterben. Es kann nicht das alleinige Ziel der Klinikseelsorge sein, gegen das Sterben zu arbeiten und sich zur Gehilfin der Transplantationsmediziner zu machen. Die bleibende Aufgabe ist es, den Gesundungsprozess und den Sterbeprozess zu begleiten. Der Sterbende hat ein Recht auf eine ungestörte Endphase. Die Angehörigen haben ein Recht darauf, dass ihre Trauer nicht gestört – oder soll ich sagen – verstört wird, weil sie sich von einem geliebten Menschen verabschieden müssen, der in ihrer Wahrnehmung gar nicht tot ist. Um innerlich zur Ruhe zu kommen, brauchen Angehörige die Gewissheit, dass der Mensch, den sie lieben, wirklich tot ist. Ohne diese Gewissheit werden sie u. U. von schlimmen Fantasien verfolgt, ganz zu schweigen von der späten Einsicht, dass sie den geliebten Menschen in seiner schwächsten Stunde allein gelassen haben.

Seelsorger haben Sorge zu tragen, dass sowohl dem Sterbenden als auch den Angehörigen ein würdiger Abschied ermöglicht wird und sie darin Trost finden. Dabei kann sich die Seelsorge auf das stützen, was in der Christenheit schon immer geglaubt wurde. Wir bezeichnen es in der Theologie als die eschatologische Hoffnung. Bisher galt eine doppelte Sicht: einerseits dass Krankheit und Tod nicht einfach hingenommen werden müssen, weshalb bereits die alte Kirche den Auftrag ernst genommen hat, Menschen zu heilen und zu pflegen. „Wir Christen sind Protestleute gegen den Tod“, hat der schwäbische Seelsorger Christoph Blumhardt pointiert formuliert. Aber es galt auch andererseits, dass der Tod die Tür zu Gott und zur Vollendung des persönlichen Lebens ist und daher glaubend angenommen werden kann[13]. Diese Spannung kommt sehr gut zum Ausdruck im Titel eines Buches unseres ehemaligen Präses Peter Baier: „Nein zum Tode, Ja zum Sterben“. Ist es nicht auch Aufgabe der Seelsorge darauf hinzuweisen, dass wir uns alle dem Sterben stellen müssen und im Glauben auch zu einer – wenn auch hart erkämpften – Einstimmung gelangen können? Es gab einmal eine arsmoriendi (die Kunst des Sterbens). Ich finde sie besonders gut ausgedrückt in einem Gebet des französischen Mathematikgenies Blaise Pascal: Herr, ich bitte weder um Gesundheit noch um Krankheit, weder um Leben noch um Tod, sondern darum, dass du über meine Gesundheit und meinen Tod verfügst zu deiner Ehre und zu meinem Heile. Du allein weißt, was mir dienlich ist. – Du allein bist der Herr, tue, was du willst.[14] Ist es unmöglich für uns moderne Christenmenschen zu einer solchen inneren Einstellung zurückzufinden? Oder kapitulieren wird vor dem alltäglichen Atheismus? Spätestens in den Trauerhallen wird ja doch unsere Hoffnung verkündet, dass wir zurückkehren zu Gott als unserem Ursprung. Deshalb kann für uns das Sterben nicht der worstcase sein, der verhindert werden muss um jeden Preis. Ich meine damit nicht nur die enormen Kosten, die auf das Gesundheitssystem zukommen, sondern vor allem die ungeheuerlichen menschlichen und geistlichen Kosten.[15] Diese Kosten sind noch gar nicht im vollen Umfang ermittelt worden – es ist wohl auch nicht gewünscht. Mein Vater sagte einige Stunden vor seinem Tod als letzte Worte „Dann will ich mich mal auf den Weg machen.“ Wir wissen nicht, was in einem Menschen geschieht, wenn er sich auf diesen letzten Weg macht, der Stunden, vielleicht Tage dauern kann.

Aber wir haben genug Indizien aus der Sterbebegleitung, dass das Sterben ein höchst spiritueller Prozess ist, in dem ein Mensch sein irdisches Leben abschließt. Wir rühren hier an ein letztes Geheimnis und wissen sehr wenig davon, was Gott auf diesem letzten Weg zu wirken vermag. Nahtoderfahrungen lassen uns etwas davon ahnen. Opfern wir dieses Geheimnis auf dem Schlachtfeld Operationssaal?

Schlussthese: Die Theologie muss Hüterin des Menschen als Geheimnis sein – oder sie macht sich überflüssig. Weil ich das nicht besser ausdrücken kann, zitiere ich Dietrich Bonhoeffer: „Die Geheimnislosigkeit unseres modernen Lebens ist unser Verfall und unsere Armut. Menschliches Leben ist so viel wert, als es Respekt behält vor dem Geheimnis. … Wir zerstören das Geheimnis, weil wir spüren, dass wir hier an eine Grenze unseres Seins geraten; weil wir über alles verfügen und Herr sein wollen, und eben das können wir mit dem Geheimnis nicht. … Geheimnislos leben heißt von dem Geheimnis unseres eigenen Lebens, von dem Geheimnis des anderen Menschen, von dem Geheimnis der Welt nichts wissen; heißt an den Verborgenheiten unserer selbst, des anderen Menschen und der Welt vorübergehen; heißt an der Oberfläche bleiben.Ohne Respekt vor dem Geheimnis nehmen wir die Welt nur so weit ernst, als sie verrechnet und ausgenutzt werden kann. Das bedeutet aber, dass wir die entscheidenden Vorgänge des Lebens gar nicht sehen oder sogar ableugnen. … Dass das Geheimnis die Wurzel alles Begreiflichen und Klaren und Offenbaren ist, das wollen wir nicht hören. Und wenn wir es hören, so wollen wir diesem Geheimnis zu Leibe, wollen es errechnen und erklären, wollen es sezieren; und der Erfolg ist, dass wir das Leben dabei töten und das Geheimnis nicht entdecken. Es entzieht sich unserem Zugriff.“[16] Mit der Hinrichtung dieses genialen Theologen in den letzten Kriegstagen hat Hitler noch einen letzten verheerenden Schlag gegen unsere Kirche geführt. Bonhoeffers Stimme bräuchten wir wieder nötiger denn je.

Vortrag vom 19. Oktober 2013 in Frankfurt
auf der Veranstaltung von Kritische Aufklärung über Organtransplantation e.V. (KAO)

Erdmute Wittmann Pfarrerin i.R.

53424 Remagen
In der Wässerscheid 45

Literaturangaben

  1. Als Vaters Bart noch rot war. Ein Roman in Geschichten, Die Arche Verlags AG Peter Schifferli, Zürich 1958 
  2. >Wir wissen, dass mit einem solchen Versprechen Erwartungen geweckt werden, die oftmals gar nicht eingelöst werden, weil die Organempfänger zu chronisch Kranken gemacht werden. 
  3. Dieses Gebot aus dem AT und NT hat eine zu schwierigere Interpretationsgeschichte, als man auf den ersten Blick meint. 
  4. These von Prof. Anna Bergmann im Vortrag „Organspende zwischen animistisch-magischen Todesvorstellungen und medizinischer Rationalität“ 
  5. Der Tabubruch rührt auch an das in vielen Kulturen herrschende Kannibalismus-Tabu, das damit gebrochen wird, und betrifft den überlebenden Patienten, der sich das Fleisch eines anderen einverleibt. 
  6. Joh 15,13 
  7. Organe spenden? Nachdenken im Grenzland zwischen Leben und Tod, Nr. 2, April 2013, S. 15 
  8. Ärzteblatt 27, 20123 
  9. Die Geschichte lehrt dauernd, aber sie findet keine Schüler. (Ingeborg Bachmann, 1926-73) 
  10. Z.B. Martin Turek, „Der verweigerte Dialog“ 
  11. Seite 190, 2. Auflage 1975 
  12. „Es ist ein kurzer Schritt vom Wohltäter der Menschheit zum zynischen Vernichter.“ (Jörg Zink) 
  13. Phil 1,23 u.a. Christus ist mein Leben und Sterben ist mein gewinn. … Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre. 
  14. 22. Juni 2008 
  15. Organhandel und Organmafia – Magazin der Kindernothilfe Ausgabe 3.2013 – Die verlorenen Kinder Boliviens 
  16. Dietrich Bonhoeffer Werke, Band 13, Seite 360/361 (Brevier 4. Juni) 
Erdmute Wittmann
Erdmute Wittmann