Ich möchte hier den Weg nachzeichnen, der mich vom Befürworter der Organspende zu ihrem Gegner gemacht hat. Bis zum 25. 0ktober 1997 war für mich klar: Wenn ich tot bin, brauche ich meine Organe nicht mehr – Die Organe werden nach dem Tode entnommen – Sie können das Leben anderer retten. Ich vermute, dass sich in dieser Haltung die Diskussion um das Transplantationsgesetz wiederfindet, das ja Ende 1997 in Kraft trat; ich kann mich aber nicht daran erinnern, dass mich diese Diskussion zu der Zeit überhaupt interessiert hat.
An diesem 25. Oktober bekamen wir am frühen Morgen die Nachricht, dass unser Sohn einen Verkehrsunfall gehabt habe; schon in den ersten Informationen kam das Wort Koma vor. Wir waren gerade im Urlaub – glücklicherweise in Deutschland – und fuhren nun so schnell wie möglich zu der Klinik, in die unser Sohn eingeliefert worden war. Diese Fahrt werde ich nicht vergessen: Auf der einen Seite stand der Wunsch, so schnell wie möglich dort hinzukommen, auf der anderen Seite – je näher wir kamen – die Angst vor dem, was wir erleben müssten.
Unser Sohn war 29 Jahre alt, Doktorand an der Universität und seit einem Jahr verheiratet. Seine Frau – unsere Schwiegertochter – war im zweiten Monat schwanger. Die beiden hatten schon feste Vorstellungen für die Zukunft: Nach der Promotion wollte die Familie nach Kanada gehen; dort wollte unser Sohn weiter wissenschaftlich arbeiten.

In der Klinik sagte uns die zuständige Ärztin – quasi im Vorübergehen – dass unser Sohn ein schweres Schädel-Hirntrauma erlitten habe und wir mit dem Schlimmsten rechnen müssten. Ohne nachzudenken, sagte ich: „Dann wird ja die Frage nach Organspende auf uns zukommen“ – das war mir als erstes in der Schocksituation und der Furcht vor der schrecklichen Wahrheit eingefallen. Erst später bemerkte ich, dass ich durch diese Äußerung einen Mechanismus in Gang gesetzt hatte, der von unserem Sohn aus einem Patienten einen potenziellen Organspender machte und dadurch seine Leiden verlängerte.

Unser Sohn lag auf der Intensivstation mit etwa einem halben Dutzend weiterer Schwerstkranker in einem großen Raum ohne jede Abtrennung. Dass hier Besuch nicht gern gesehen wurde, war von Anfang an klar. Er lag da, mit einem Verband um den Kopf – man hatte seine Schädeldecke geöffnet – sonst aber außer einer kleinen Schürfwunde völlig unversehrt. Er wurde durch Monitore überwacht, bekam Infusionen und wurde beatmet. Er lag völlig regungslos, hatte einen entspannten Gesichtsausdruck und war warm, als wir ihn anfassten.

Von jetzt an waren wir die nächsten Tage so oft es möglich war, bei unserem Sohn. Immer wieder wurden wir aus dem Raum geschickt und warteten dann in einem kleinen Durchgangs- und Abstellraum auf die Erlaubnis, wieder bei ihm sitzen und seine Hand halten zu dürfen. Diese Momente sind unvergesslich, mussten sie doch den endgültigen Abschied ersetzen, was uns zu der Zeit aber nicht klar war.

Am zweiten Tag meinte eine Schwester zu uns: „Ich beglückwünsche Sie zu Ihrer Entscheidung, die Organe Ihres Sohnes zu spenden!“ Erstaunt entgegnete ich: „Aber wir haben uns doch noch gar nicht entschieden.“ Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir – abgesehen von meiner Bemerkung gegenüber der Ärztin, nicht weiter über das Thema gesprochen.

Jetzt kam es zu einem Gespräch der Familie mit den behandelnden Ärzten; dabei bekamen wir Informationen über den Ablauf der Explantation, die sich im Nachhinein aber als falsch herausstellten.

In den folgenden zwei Tagen wurde der Zustand unseres Sohnes immer kritischer, und wenn ich nicht von der Transplantation geredet hätte, wäre er wahrscheinlich einen Tag früher an Lungenversagen gestorben. So aber wurde er mit allen Mitteln am Leben erhalten, um die Spende zu realisieren. Dazu mussten allerdings die Barbituratwerte in seinem Blut so weit sinken, dass der Hirntod festgestellt werden konnte.

Als das dann stattgefunden hatte, wurden wir offiziell von der Transplantationskoordinatorin nach dem mutmaßlichen Willen unseres Sohnes gefragt mit den Worten: „Ihr Angehöriger war doch sicher ein sozialer Mensch?!“ Wir kreuzten auf einer Liste die Organe an, die entnommen werden konnten. Dann verließen wir das Krankenhaus, ohne unseren Sohn noch einmal zu sehen.

Im Nachhinein werfe ich mir vor, dass ich durch meinen Hinweis auf Organspende von Anfang an den Blick des Krankenhauses weg von ihm als Patienten hin zur Transplantation gelenkt habe. Habe ich vielleicht dafür gesorgt, dass nicht alles für Ihn, sondern eher für die unbekannten Empfänger getan wurde?

Ich werfe mir vor, dass ich seinen natürlichen Tod einen Tag früher verhindert habe.

Ich werfe mir vor, dass ich ihn habe sterben lassen, während er aufgesägt und aufgeschnitten wurde, während er mit kalter Perfusionslösung durchspült wurde – und das alles ohne Narkose. Keiner weiß aber genau, was ein sogenannter „Hirntoter“ noch empfinden kann.

Vielleicht hätte schon folgende Frage ausgereicht: „Ihr Sohn liegt im Sterben. Sind Sie damit einverstanden, dass er auf dem OP zu Ende stirbt, während ihm die Organe entnommen werden?“ Ich hoffe, dass ich dann die Ärzte vom Hof gejagt hätte. Wer möchte sein Kind schon auf solch schreckliche Weise sterben lassen?

Ich werfe mir vor, dass ich tatsächlich meinen Sohn für tot hielt, als die Ärzte mir das verkündeten, obwohl er sich durch die Hirntodfeststellung in keiner Weise verändert hatte.

All diese Einsichten habe ich erst in den folgenden Jahren gewonnen, und wenn sich besonders meine Frau nicht weiter intensiv mit dem Thema Transplantation beschäftigt hätte, wäre ich vielleicht sogar in „seliger Unwissenheit“ geblieben und würde vielleicht heute noch das glauben, was die Ärzte behaupten, was die DSO propagiert.

So aber fühle ich mich über den Tisch gezogen, meine Unwissenheit wurde ausgenutzt. Ich habe mir oft überlegt, was ich denn hätte wissen müssen, um eine begründete Entscheidung treffen zu können.

Inzwischen weiß ich, dass es eine heftige Diskussion um den sogenannten Hirntod gibt.

Schon 1995 stellt
Prof. Roth aus Bremen fest:
„Niemand wird … beim Ausfall der Nierenfunktion von einem toten Menschen sprechen, von einer Leiche. Dass das Gehirn Empfindungen und Bewusstsein hervorbringt, die Niere aber nicht, ist in diesem Zusammenhang aber völlig unerheblich. Die Gleichsetzung von Hirntod und Gesamttod des Menschen ist daher abzulehnen…“ Er sagt weiter: „Der Hirntod ist nicht völlig eindeutig diagnostizierbar… Dies ist entgegen vieler Verlautbarungen der Fachwelt seit langem bekannt.“

Wenn die Transplantationsmediziner behaupten, dass dieser Tod wissenschaftlich belegt sei, so blenden sie ganz bewusst die Erkenntnisse der Hirnforscher aus, die in den letzten Jahren viel Neues über das Gehirn und seine Funktion erfahren haben.

Bestätigt werden diese Äußerungen von einer Vielzahl Wissenschaftler aus aller Welt. Bei einer Tagung der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften im Februar 2005 im Vatikan zu den „Zeichen des Todes“, noch einberufen von Johannes Paul II., war die Kritik so heftig, dass kein offizielles Protokoll – wie sonst üblich – veröffentlicht wurde; nur über inoffizielle Kanäle sind diese Stellungnahmen bekannt geworden. Sind auch Kardinäle interessiert an sog. „neuen“ Organen?

Im Jahr 2010 wurde die Diskussion, die es schon länger in den USA gibt, so intensiv, dass auch deutsche Medien nicht mehr weghören konnten. Die Zielrichtung in den USA: Wie schaffen wir es, die Menschen so weit zu bringen, dass sie Organe auch dann abgeben, wenn sie wissen, dass es den „Hirntod“ nicht gibt? (Überschrift eines Artikels: „How can we handle the truth?“)

Wenn ich gewusst hätte, dass es begründete Zweifel am Hirntodkonzept gibt, hätte ich meine Zustimmung zur Organentnahme nie gegeben – wer möchte seinen hilflosen Angehörigen denn solch einem ungewissen und grausamen Sterben ausliefern?

Ich fordere also Aufklärung, die den Namen auch verdient: Statt der Unterdrückung der kritischen Stimmen, an der sich beide christlichen Kirchen kräftig beteiligen, soll auf die Nützlichkeit der Hirntoddefinition für die einen – Mediziner und Empfänger – und auf die Grausamkeit für die anderen – die Spender – hingewiesen werden.

Statt von der hundertprozentigen Zuverlässigkeit der Hirntoddiagnose zu fabulieren, sollte man die Öffentlichkeit darüber informieren, dass Studien das Gegenteil belegen.

Und die DSO sollte nicht dauernd von Solidarität in der Gesellschaft reden und damit die Ausbeutung des
einen zu Gunsten eines anderen meinen.

Statt den schwammigen Begriff der Nächstenliebe zu verwenden, sollten gerade die Kirchen ein Interesse daran haben, ihre sterbenden Mitglieder nicht schutzlos der Medizin auszuliefern, sondern ihnen einen Übergang in Würde und Ruhe zu ermöglichen.

Zusammen mit der Pharmaindustrie, die an den Transplantierten, die ja Dauerpatienten sind, viel Geld verdient, ist hier ein Kartell entstanden, das Informationen nur dann fördert, wenn sie Werbung für Organspende darstellen, sonst tut man alles, um die Öffentlichkeit nur in einer Richtung zu beeinflussen. Vor kurzem hat der Bundestag in einem Gesetz beschlossen, dass Gewebe und Körperteile wie Arzneimittel behandelt werden. Damit wirft das Explantieren von Menschen noch mehr Gewinn ab.

In dem Zusammenhang stellen sich für mich einige Fragen:

Woran ist die Transplantationsmedizin eigentlich in erster Linie interessiert? Will sie kranken Menschen
helfen? Dann müssten andere Therapieformen entwickelt und weiterentwickelt werden, um den Kranken nicht vergebliche Hoffnung zu machen.

Warum gibt es keine allgemein zugängliche Statistik der Erfolge oder Misserfolge der Transplantationen?
Sind die Empfänger von Organen tatsächlich so gesund und fit, wie die Werbung uns weismachen will?
Man hört und sieht immer nur die Vorzeigepatienten, denen es anscheinend gut geht.

Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie, auf deren Produkte ein Transplantierter sein ganzes weiteres Leben angewiesen ist, weil der Körper das fremde Organ abstoßen will?
Der Verwaltungsleiter eines Krankenhauses erzählte uns, dass es nur zwei Bereiche gibt, in denen die Kosten nicht „gedeckelt“ sind: Bei den Blutern und bei der Transplantationsmedizin. Er bedauerte, dass man mit dem vielen Geld nicht z.B. eher die Volkskrankheit Diabetes bekämpfte. Sind diese Zusammmenhänge unwichtig?

Ich möchte mit einigen Feststellungen schließen:

1. Aus dem Gesagten geht für mich hervor, dass die Weggabe von Organen nicht erwartet oder sogar eingefordert werden kann, sondern dass das ein Opfer ist, für das man sich nach Kenntnis aller Probleme nur persönlich entscheiden kann.

2. Ich empfinde es als infam, dass es immer wieder zur Konfrontation zwischen Transplantierten und uns Angehörigen von Organspendern kommt. Wir sind beide durch die Medizin miteinander verbunden worden, sozusagen zwei Seiten der einen Medaille, die sich die Mediziner an ihre Brust heften können: Es kann für die einen kein Weiterleben ohne das Opfer der anderen geben. Das muss man sagen können, ohne als „Mörder“ beschimpft zu werden. Diesen Zusammenhang zu verschleiern werfe ich dem System vor.

3. Das Heilsversprechen der Medizin, uns das Leben zu erhalten, ist bislang noch nicht eingelöst worden – ich sage glücklicherweise. Wir müssen wieder lernen, mit dem eigenen Tod zu leben, er ereilt uns alle. Hilfe dabei gibt es in der Hospizbewegung, die da einsetzt, wo die Medizin am Ende ist.

Gebhard Focke
Gebhard Focke

Gebhard Focke ist Vater zweier Kinder und Realschullehrer.
Sein Sohn Arnd verunglückte 1997.