Trauma Organspende

Mir fällt es nicht leicht, über die Orga­nent­nahme bei unserem Sohn Lorenz zu bericht­en. Das ist ein trau­ma­tis­ches Geschehen.

Über das Kind, den Unfall, den Tod und die Zeit danach kann ich gut sprechen. Das half mir sog­ar sehr in der Trauer. Ganz anders ver­hält es sich mit der Orga­nent­nahme. Die hat­te ich ver­drängt, darüber hat­te ich Jahre nicht gere­det – noch nicht ein­mal mit mein­er Frau. Ich hat­te mich geschämt und ich schäme mich noch heute, dass ich mich habe manip­ulieren und beim Ster­ben des Kindes wegschick­en lassen, statt es zu begleit­en bis zulet­zt.

Einige sagen, so etwas komme heute in ihren Kranken­häusern nicht mehr vor. Aber das stimmt nicht. Die Meth­o­d­en der Bee­in­flus­sung sind nur ver­fein­ert und opti­miert wor­den – zur Gewin­nung von mehr Orga­nen. Die Aus­gangssi­t­u­a­tion ist gle­ich geblieben und sie wird sich nicht ändern, weil die Organtrans­plan­ta­tion auf Kosten der liebevollen Begleitung im Ster­ben geht. Auch die Schock­si­t­u­a­tion, in der sich die Ange­höri­gen befind­en, läßt sich nicht wegza­ubern. Sie wird, wie wir von Bericht­en über Eschede oder Kaprun wis­sen, ohne­hin nur bei Katas­tro­phen mit vie­len Toten genü­gend berück­sichtigt. Dass für alle Eltern, die plöt­zlich ein Kind ver­lieren, eine keines­falls gerin­gere Katas­tro­phe einge­treten ist, wird meist vergessen.

Wir waren nach dem Unfall im Schock und nicht in der Lage, eine eigene Entschei­dung zu tre­f­fen. Wir hät­ten damals alles getan, wozu wir aufge­fordert wor­den wären. So geht es lei­der den meis­ten Betrof­fe­nen. In dieser Aus­nahme­si­t­u­a­tion, in der man das Geschehen noch lange nicht begreift und in der der Ver­let­zte lebendig vor einem liegt, mit Organtrans­plan­ta­tion über­rascht zu wer­den, empfinde ich als Manip­u­la­tion und Grausamkeit.

Ich wollte doch bei dem Kind sitzen, ihm die Hand hal­ten, auf seinem let­zten Weg bei ihm sein.

Stattdessen die Frage, ob wir Organe spenden woll­ten, die Aufzäh­lung aller benötigten Organe, keine Infor­ma­tion zum schreck­lichen Ablauf der Orga­nent­nahme bei fort­dauern­der Beat­mung.
Stattdessen habe ich mir über die vorgelegten Fra­gen den Kopf zer­brochen, bin herumger­an­nt, habe tele­foniert – war unfähig, klare Gedanken zu fassen.

Ich habe dann die Quälerei mit der Zus­tim­mung in die Niere­nent­nahme been­det, weil ich endlich in Ruhe gelassen wer­den wollte, weil ich ganz für unser Kind da sein wollte.

Nach der Mis­sach­tung der Zusagen, das Kind auf der Sta­tion aufzubahren, und dem Anblick des entstell­ten Kindes kamen Zweifel auf, ob wirk­lich nur die Nieren ent­nom­men wor­den sind. Diese Zweifel habe ich sofort wieder ver­drängt. Erst viel später ver­langten wir die Unter­la­gen vom Kranken­haus. Die gab es ange­blich nicht.

Die Antwort nach jahre­langem Schriftwech­sel lautete:
Weil die Ent­nahme keinen Patien­ten mehr betrof­fen habe, son­dern einen Toten, sei sie nicht in der Kranke­nak­te doku­men­tiert. Andere Doku­mente waren wider­sprüch­lich und unvoll­ständig.

Im Hirn­tod­konzept steckt eine unzuläs­sige Über­be­w­er­tung des Gehirns. Die Auf­s­pal­tung des men­schlichen Organ­is­mus in einen dien­st­baren Kör­p­er und ein über­ge­ord­netes, steuern­des, die men­schliche Per­son verkör­pern­des Gehirn ist medi­zinisch-biol­o­gisch falsch.“
Prof. Stapen­horst, Herz-Chirurg

Trotz­dem zeigten die lück­en­haften Unter­la­gen, dass selb­st die Ärzte nicht an den “Hirn­tod” als Tod des
Men­schen glaubten.

Es ergeben sich für Lorenz alleine vier Todeszeit­punk­te:

• Dien­stag­mit­tag:
Zeit­punkt der Todesmit­teilung an die Mut­ter und die Frage nach den Orga­nen

• Mittwoch 8.00 Uhr:
Zeit­punkt der Fest­stel­lung des soge­nan­nten Hirn­todes

• Mittwoch 12.00 Uhr:
Todeszeit­punkt auf dem Nieren­pro­tokoll beim Trans­plan­ta­tion­szen­trum

• Mittwoch 13.50 Uhr:
Zeit­punkt der Her­beiführung des Herzstill­standes und des Abstel­lens der Beat­mung

Der Men­sch ist die kom­ple­men­täre Ganzheit aus Leib und Seele samt allen Gliedern und Orga­nen. Er ist Indi­vidu­um und kein Dividu­um. Diese Ein­heit kann zwar ver­let­zt wer­den, ist aber auch ver­let­zt noch Ein­heit.“
Prof. Jörns, The­ologe

Wie wenig an den “Hirn­tod” als Tod des Men­schen geglaubt wird, zeigt auch der Umgang mit Narkose- und Schmerzmit­teln. Einige Ärzte geben bei­des, andere nur eins davon oder über­haupt nichts.

Selb­st der Umgang mit Ange­höri­gen von “Hirn­toten” ist unter­schiedlich, je nach­dem, ob brauch­bare Organe vorhan­den sind oder nicht. Bei einem Kind, dessen Organe durch eine Infek­tion unbrauch­bar waren, wurde den Eltern gesagt: “Bleiben Sie bei Ihrem Kind, es lebt noch, es ver­ste­ht Sie irgend­wie, begleit­en Sie es bis zulet­zt, das hil­ft später.”

Im sel­ben Kranken­haus wurde bei einem anderen Kind mit brauch­baren (trans­plantablen) Orga­nen gesagt: “Das Kind ist tot, da sind keine Empfind­un­gen und Wahrnehmungen mehr. Das einzige, was Sie noch tun kön­nen, ist zu entschei­den, ob Sie einem anderen mit ein­er Organspende helfen wollen oder nicht. Sie kön­nen ruhig nach Hause gehen, obwohl der Leib noch lebendig ist.” – Wie bei uns!

Ich jeden­falls würde nach all den schmer­zlichen Erfahrun­gen nie mehr ein Kind im Ster­ben ver­lassen.

Nachtrag 2013

Die Orga­nent­nahme bei Lorenz Mey­er hat ein juris­tis­ches Nach­spiel.
Lesen sie hierzu die Schilderun­gen von Gisela Meier zu Biesen(Anmerkung der Redak­tion.)

KAO
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