Was bedeutet es zu sterben?

Als Jahi McMath in der Klinik für hirntot erklärt wurde, akzeptierten ihre Angehörigen das nicht. Ihr Fall stellt die bloße Natur des Daseins in Frage.


Der englische Originalartikel von Rachel Aviv erschien im “The New Yorker” in der Print Ausgabe vom 05. Februar 2018 mit der Überschrift “Die Todes Debatte”.

Den englischen Originalartikel finden Sie online bei “The New Yorker“: https://www.newyorker.com/magazine/2018/02/05/what-does-it-mean-to-die

Deutsche Übersetzung: Renate Focke für KAO


Vor der Operation, bei der ihre Mandeln entnommen werden sollten, fragte die 13 jährige afro-amerikanische Jahi McMath aus Oakland, Kalifornien, ihren behandelnden Arzt Frederick Rosen nach seinen Referenzen. „Wie häufig haben Sie diese Operation schon gemacht?“ „Hunderte Male“, erwiderte Rosen. „Haben Sie letzte Nacht gut geschlafen?“ Er habe gut geschlafen, antwortete er. Jahis Mutter, Nailah Winfield, ermutigte Jahi dazu, weiter zu fragen. „Es geht um deinen Körper“, sagte sie. Du hast das Recht, diesen Arzt alles zu fragen, was du wissen willst.“

Jahi hatte darum gebeten, nicht operiert zu werden, aber ihre Mutter versicherte ihr, ihr Leben würde dadurch erleichtert. Jahi litt unter Schlaf-Apnoe, was zur Folge hatte, dass sie andauernd müde war und sich in der Schule nicht konzentrieren konnte. Sie schnarchte so laut, dass sie sich nicht traute, auf „Pyjama-Partys“ zu gehen. Nailah hatte ihre vier Kinder allein versorgt, und Jahi, ihr zweites Kind, lag ihr besonders am Herzen. Wenn sie im Fernsehen Kriegsberichte sah, fragte sie besorgt: „Wird das auch hier passieren?“ Ihre Mitschüler machten sich über sie lustig, weil sie „fett“ sei, und sie hörte sich diese Beleidigungen wortlos an. Einige Male bat Nailah die Lehrer, ihre Mitschüler zur Rede zu stellen.

Die Operation am Oakland’s Children’s Hospital dauerte vier Stunden. Als Jahi am 9. Dezember 2013 gegen sieben Uhr nachmittags aufwachte, gaben ihr die Krankenpfleger ein Grapefruit-Eis, um den Schmerz in ihrem Hals zu lindern. Nach etwa einer Stunde fing Jahi an, Blut zu spucken. Die Pflegerinnen sagten zu ihr, sie solle sich keine Sorgen machen, und gaben ihr eine Plastik-Schüssel, in der sie das Blut auffangen konnte. Eine Pflegerin notierte in ihrem Kranken-Bericht, sie habe Jahi dazu ermutigt, sich „zu entspannen und möglichst nicht zu husten“. Um neun Uhr nachts waren die Mullbinden vor Jahis Nase blutgetränkt. Marvin, Nailahs Ehemann, Lastwagen-Fahrer, verlangte immer wieder, dass ein Arzt kommen müsse. Eine Krankenpflegerin teilte ihm mit, dass immer nur ein Angehöriger im Zimmer sein dürfe. Er willigte ein zu gehen.

Nailah, die in der Geschäftskundenabteilung bei „Home Depot“ arbeitete (Anm. der Übersetzerin: „Home Depot“ ist eine bekannte Baumarktkette in den USA.), sagte: „Niemand hat uns zugehört, und ich kann es nicht beweisen, aber ich spürte es tief in meinem Herzen: Wenn Jahi ein weißes kleines Mädchen gewesen wäre, hätten wir mit Sicherheit mehr Hilfe und Zuwendung erfahren.“ Unter Tränen rief sie ihre Mutter an, Sandra Chatman, die seit 30 Jahren Krankenpflegerin war und in der Chirurgie bei „Kaiser Permanente“ in Oakland arbeitete.

Sandra, eine warmherzige und gelassene Frau, die oft eine Blume im Haar trägt, kam um 10 Uhr in der Klinik an. Als sie bemerkte, dass Jahi ein Gefäß mit zweihundert Milliliter Fassungsvermögen mit ihrem Blut gefüllt hatte, sagte sie zu einer Krankenpflegerin: „Ich halte das nicht für normal. Was denken Sie?“ Eine Krankenpflegerin notierte in der Patientenakte, dass die diensthabenden Ärzte mehrmals „auch beim Schichtwechsel“ darüber informiert worden waren, dass Jahi blutete. Eine andere Pflegerin schrieb, dass die Ärzte über diese anhaltende Nachblutung informiert waren, aber gesagt hätten, es seien keine sofortigen Eingriffe von Seiten der Hals-Nasen-Ohren-Station erforderlich oder ein chirurgischer Eingriff. Rosen hatte die Klinik an diesem Tag verlassen. In seinem Arztbericht hatte er vermerkt, dass Jahis rechte Herzschlagader unnormal nahe am Rachenraum war, ein Geburtsfehler, der möglicherweise das Risiko von Blutungen verstärkt. Aber die für sie zuständigen Krankenpfleger schienen diese Umstände nicht zu kennen und vermerkten dies auch nicht in ihrer Patientenakte. (Der Rechtsanwalt von Rosen sagte, dass er nicht über Jahi sprechen dürfe; die Klinik durfte auch keinen Kommentar abgeben wegen des Datenschutzes, aber ein Rechtsanwalt sagte, die Klinik sei sich sicher, dass Jahis Behandlung angemessen gewesen sei.)

Es gab 23 Betten auf der Intensivstation, verteilt auf drei Räume. Ein Arzt stand gerade auf der anderen Seite von Jahis Krankenzimmer, und Sandra fragte ihn: “Warum kümmern Sie sich nicht um meine Enkelin?“ Der Arzt wies die diensthabende Krankenpflegerin an, Jahis Klinikhemd nicht zu wechseln, damit er feststellen konnte, wieviel Blut sie verlor, und ihr Afrin in die Nase zu sprühen. Sandra, die in ihrer Klinik einen Workshop über das „four-habits-model“ leitet, eine Methode, mit der man Empathie mit den Patienten üben kann, sagte mir, sie sei erstaunt gewesen, dass der Arzt sich nicht namentlich vorgestellt habe. „Er runzelte die Stirn und verschränkte seine Arme. Als ob er dachte, wir seien Abschaum.“

Mittags um halb eins bemerkte Sandra auf Jahis Monitor, dass die Sauerstoff-Sättigung auf 79 Prozent gefallen war. Sie rief um Hilfe, und mehrere Pfleger und Ärzte und begannen damit, Jahi zu intubieren. Sandra sagte, sie habe einen Arzt sagen hören: „Oh Mist, ihr Herz steht still.“ Sie brauchten zweieinhalb Stunden, um Jahis Herzschlag und ihre Atmung zu stabilisieren. Sandra sagte, dass Rosen am nächsten Morgen aussah, als habe er geweint.

Nach zwei Tagen wurde Jahi für hirntot erklärt. Sie atmete mit Hilfe künstlicher Beatmung, aber ihre Pupillen reagierten nicht auf Licht, sie hatte keinen Würgereiz, und ihre Augen bewegten sich nicht, als man Eiswasser in ihre beiden Ohren träufelte. Für eine kurze Zeit wurde die künstliche Beatmung unterbrochen, um sie zu testen, aber ihre Lungen füllten sich mit Kohlendioxid. Bei einem EEG-Test wurde keinerlei Hirnaktivität mehr festgestellt.

Wie in allen anderen Bundesstaaten gilt in Kalifornien eine Version des 1981 verabschiedeten „Uniform Determination of Death Act“, der besagt, dass ein Mensch tot ist, der den „irreversiblen Verlust aller Funktionen des Gehirns erlitten hat, einschließlich des Hirnstamms.“ Die Gesetze in Kalifornien erfordern, dass die Kliniken eine angemessene kurze Zeitspanne des „Übergangs“ einhalten, bevor sie die künstliche Beatmung beenden – lange genug, um der Familie Zeit zu geben, sich dort einzufinden, aber nicht so lange, dass die Kliniken die „Bedürfnisse anderer Patienten und eventuell neuer Patienten mit dringend notwendiger Versorgung vernachlässigen“ könnten“.

[/media-credit] Jahi at home with her family in January. “I knew that Jahi was in there,” her mother, Nailah, said.
 

Bei einem Treffen mit Rosen und anderen medizinischen Mitarbeitern forderte die Familie eine Entschuldigung. Nach Aussage eines Sozialarbeiters, der bei diesem Treffen dabei war, „drückte Rosen sein Mitgefühl aus.“ Die Familie wies das zurück. “Geben Sie Ihren Job auf“, sagte Marvin zu ihm. „Dies war absolut falsch!“ Sandra sagte, Jahi habe „nicht die Behandlung bekommen, die sie gebraucht hätte.“

In den folgenden Tagen drängte eine Sozialarbeiterin Jahis Familie immer wieder, sich mit der Tatsache auseinanderzusetzen, dass die künstliche Beatmung beendet werden könnte. Sie legte ihnen auch nahe, darüber nachzudenken, ob sie Jahis Organe spenden wollten. „Wir waren dagegen“, sagte Marvin. „Sagen Sie uns zuerst, was mit ihr passiert ist.“ Die Familie verlangte Jahis Krankenakte, aber man gab sie ihnen nicht, solange Jahi noch in der Klinik war. Nailah verstand nicht, dass Jahi tot sein sollte, obwohl ihre Haut noch warm und weich war und sie manchmal ihre Arme, Fußknöchel und Hüften bewegte. Die Ärzte sagten, es handle sich nur um spinale Reflexe, die in der Medizin als „Lazarus-Zeichen“ bezeichnet werden.“

Eine afro-amerikanische Intensivmedizinerin, Sharon Williams, bat die Klinikleitung darum, der Familie etwas mehr Zeit zu lassen, um zu trauern, und sie war der Ansicht, dass es „nicht im Sinne der Angehörigen“ sei, Jahis künstliche Beatmung sofort abzustellen. Aber eine Woche später, als sich die Haltung der Familie nicht geändert hatte, bat Williams um ein Gespräch mit Sandra „von Frau zu Frau“. Sandra sagte, Williams habe ihr mitgeteilt, dass Jahi nicht gut aussehen würde bei ihrer Beerdigung, wenn sie zu lange warten würden, bis man ihre künstliche Beatmung beendete, und sie fügte hinzu „Du weißt, wie wir das sehen.“ (Williams bestreitet Sandras Version dieses Gesprächs.)

„Wen meinte sie mit „wir“?“, Sandra erinnert sich daran, dass sie dies dachte. „Wir Afro-Amerikaner?“ Ich fühlte mich so kleingemacht. Ja, viele schwarze Kinder sterben in Oakland, und Leute beerdigen ihre Kinder – aber das heißt nicht, dass wir alle so sind. Glauben Sie, wir seien daran gewöhnt, dass unsere Kinder sterben, dass dies genau das ist, was wir Schwarzen immer wieder erleben?“ Sie sagte: „An diesem Punkt habe ich mein Vertrauen vollkommen verloren.“

Nailahs jüngerer Bruder Omari Sealey schlief regelmäßig in einem Stuhl neben Jahis Krankenbett, um sicherzugehen, dass niemand sie „umbringen“ konnte. Er sagte: „Ich spürte, dass Jahis Leben in ihren Augen nicht so wichtig war. Ich empfand es so, als würden sie versuchen, uns wegzuscheuchen.“ Als ehemaliger Baseball-Star an der San Diego State University hatte er viele „Follower“ bei den sozialen Medien, und auf Instagram und Facebook teilte er mit, dass die Klinik die Familie dazu bringen wollte, Jahis künstliche Beatmung zu beenden. „Sie versuchen, uns nur juristischen Mist anzudrehen“, schrieb er. „Ihr Leben ist erst dann zu Ende, wenn Gott es will.“ Unter den Kommentaren schrieb ein Freund: „Das ist die endlose Kette der MISSACHTUNG. Nieder mit diesem Gesundheits-System!“ Ein anderer schrieb: „Entweder wollen sie uns tot oder im Gefängnis. Sie wollen uns nicht lebendig sehen.“

Eine Woche nach der Operation rief Sealey Rechtsanwalt Christopher Dolan an, Fachmann für Privatklagen, und informierte ihn: „Sie sind dabei, meine Nichte umbringen“. Dolan übernahm den Fall pro bono (d.h. ohne Bezahlung), obwohl er keine Erfahrung mit der Gesetzeslage am Lebensende hatte. Er beschrieb sich selbst als „Salon-Katholik“ und handelte aus dem instinktiven Gefühl heraus, dass ein Kind mit schlagendem Herzen noch nicht richtig tot sein konnte. Er verfasste eine Unterlassungs-Anweisung: Falls die Ärzte die künstliche Beatmung von Jahi abstellten, wäre das ein Verstoß gegen die Bürgerrechte von Jahi und ihrer Familie. Sealey heftete diese Information an Jahis Bett und an das Sauerstoff-Gerät.

In einer Petition an den Alameda County Superior Court forderte er, dass ein von der Klinik unabhängiger Arzt Jahi untersuchen sollte. Er schrieb, dass die Klinik Interessenskonflikte hatte, denn wenn man den Medizinern eine falsche Behandlung nachweisen könnte, würden sie, wenn sie Jahis Leben beendeten, ihre Haftung massiv verringern. In Fällen von Tod durch falsche Behandlung gibt es in Kalifornien einen Höchstsatz von 250.000 Dollar als Schmerzensgeld. Aber es gibt dabei keine Grenze nach oben, wenn ein Patient noch am Leben ist. In einem anderem Schriftsatz argumentierte Dolan, dass die Klinik Nailahs Recht auf Religionsausübung eingeschränkt habe. Er sagte, dass sie als Christin überzeugt sei, dass die Seele ihrer Tochter noch so lange im Körper sei, wie ihr Herz noch schlug.

Am 19. Dezember, zehn Tage nach der Operation, traf sich David Durand, Vizepräsident der Klinik und Vorsitzender der Ärzteschaft, mit der Familie. Sie baten Durand darum, dass Jahi bis Weihnachten weiterhin künstlich beatmet werden solle in der Hoffnung, dass sich die Hirnschwellung zurückbilden könnte. Durand sagte nein. Sie forderten auch eine künstliche Ernährung durch eine Sonde. Durand lehnte auch dies ab. Die Vorstellung, dass sie dadurch genesen könnte, sei „absurd“, so schrieb er später, und würde die Illusion nähren, dass sie nicht tot sei.

Als sie weiter darauf bestanden, fragte Durand: „Was verstehen Sie daran nicht?“ Nach Aussagen von Jahis Mutter, Stiefvater, Großmutter, Bruder und Dolan, der während des Gesprächs Aufzeichnungen machte, schlug Durand mit der Faust auf den Tisch und sagte dabei: „Sie ist tot, tot, tot“. (Durand leugnet, mit der Faust auf den Tisch geschlagen oder das Wort wiederholt zu haben.)

Drei Tage vor Weihnachten versammelte sich eine Gruppe von Kirchenführern in Oakland vor der Klinik und forderte den Bezirksstaatsanwalt auf, zu untersuchen, was mit Jahi geschehen war. „Ist Jahi es nicht wert, dass man sie bestmöglich medizinisch behandelt?“, so die Frage von Brian K. Woodson Senior, Pastor der Bay Area Christian Connection, auf einer Pressekonferenz.

Am folgenden Tag beauftragte Evelio Grillo, Richter des Alameda County Superior Court, einen neutralen Experten, Paul Fisher, Leiter der Abteilung für Kinderneurologie am Stanford University Children`s Hospital, Jahi zu untersuchen. Während der Anhörung versammelten sich 200 Menschen vor der Klinik und hielten Schilder hoch mit der Aufschrift: „Gerechtigkeit für Jahi!“ und „Auch Ärzte können irren!“ Etwa ein Viertel der Protestierenden bestand aus Nailahs Freunden und Nachbarn. Sie lebte in der Nähe ihrer Mutter, die wiederum ein paar Häuserblocks von ihrer eigenen Mutter entfernt wohnte und die von Opelousas, Louisiana, nach East Oakland gezogen war zu der Zeit, als die Bürgerrechts-Bewegung ihren Höhepunkt hatte.

Fisher führte die Standard- Hirntod-Untersuchung noch einmal durch und bestätigte die Diagnose der Klinik. Er untersuchte auch mit Hilfe von Radionukleiden den Blutfluss im Gehirn. „Man sieht eine komplette weiße Leere, eine Leere in dem Teil des Kopfes, wo sich das Gehirn befindet“, sagte er zu Richter Grillo am nächsten Tag. „Normalerweise würde es ganz schwarz sein.“ Grillo entschied, dass die Klinik Jahis Beatmungsgerät nach sechs Tagen abstellen durfte.

Die Familie bat über das Internet um Geldspenden, damit Jahi in eine andere Klinik geflogen werden konnte („Wir wissen, dass die Chancen nicht groß sind“, schrieb Nailah), und Unbekannte, die in den Medien von diesem Fall erfuhren, spendeten über fünfzigtausend Dollar. Das Terry Schiavo Life & Hope Network – eine Organisation, die von den Eltern und Geschwistern von Terry Schiavo gegründet wurde, die 15 Jahre lang in einem anhaltenden vegetativen Zustand gewesen war und eine zentrale Figur für die Lebensrechts-Bewegung wurde – bot an, seine Kontakte zu nutzen, um eine geeignete Unterbringung für sie zu finden. Nailah hatte sich niemals Gedanken gemacht, was das Recht auf Leben betrifft. In Bezug auf Abtreibung war sie der Ansicht, dass man das selbst entscheiden sollte. Aber sie sagte: „Ich wollte sie da einfach herausholen“. Sandra fragt sich manchmal: „Wenn die Ärzte in der Klinik mehr Mitgefühl gezeigt hätten, hätten wir dann so viel gekämpft?“

Nailah bat das Children`s Hospital, eine Tracheotomie zu machen, eine Methode, die es möglich macht, dass das Beatmungsgerät den Sauerstoff direkt in die Luftröhre leitet, eine sicherere Art für Jahi zu atmen während des Transports in eine andere Klinik. Das Ethik-Komitee der Klinik kam einhellig zu dem Schluss, dass dieser Eingriff sinnlos sei. „Kein denkbares medizinisches Vorhaben – Leben erhalten, Krankheiten heilen, Funktionen wiederherstellen, Leiden verringern – kann erreicht werden, wenn man einen verstorbenen Menschen beatmet und und künstlich am Leben erhält“, schrieben sie. Sie sagten, dass die Ärzte und Pflegenden, die Jahi versorgten, sich in einem großen ethischen Zwiespalt befänden, wenn sie sich nach den Wünschen der Angehörigen richteten.

Kurz bevor die Frist des Gerichts abgelaufen war, verlängerte Richter Grillo diese um acht Tage. Wenig später trafen Dolan und die Rechtsanwälte der Klinik eine Vereinbarung: Die Klinik würde Jahi dem Alameda County Coroner übergeben, der sie für tot erklären würde. Dann wäre die Familie „voll und ganz“ für sie verantwortlich.

Am 3. Januar 2014 unterschrieb der Coroner Jahis Totenschein. Als Todesursache schrieb er: „Schwebendes Verfahren“.

Zwei Tage später kamen zwei Krankenpfleger von einer Organisation für Flugtransporte in Jahis Krankenzimmer. Ein Arzt vom Children’s Hospital nahm sie vom Beatmungsgerät ab, und die zwei Krankenpflegerinnen schlossen sie an ein mobiles Gerät an und legten sie auf eine Krankenwagenliege. Sie brachten sie vom Hintereingang der Klinik zu einem nicht gekennzeichneten Krankenwagen. Wegen eines Spiels der San Francisco 49er hoffte Dolan, dass die Menge der Journalisten abgelenkt würde, die sich vor der Klinik versammelt hatten. Dolan sagte niemandem, wohin er Jahi brachte – noch nicht einmal ihrer Familie – weil er befürchtete, dass die Klinik das herausfinden und irgendwie den Plan vereiteln könnte.

Nailah durfte als einziges Familienmitglied im Flugzeug mitfliegen, das von den Spenden bezahlt wurde. Nailah war entsetzt über das Geräusch, das vom tragbaren

[/media-credit] Nailah and Marvin’s wedding, with Jordyn and Jahi.

Beatmungsgerät herkam und so laut zu sein schien wie das Flugzeugtriebwerk. Erst als sie landeten, erfuhr sie, dass sie in New Jersey war, einem der zwei Bundesstaaten – New York ist der andere – in dem die Angehörigen das Hirntod-Konzept ablehnen können, wenn es gegen ihren Glauben verstößt. Die Gesetze in diesen beiden Bundesstaaten wurden verfasst, um so den orthodoxen Juden entgegenzukommen, von denen einige unter Verweis auf den Talmud glauben, dass der Atem ein Beleg für Leben ist.

Jahi wurde in das St. Peter’s University Hospital in New Brunswick, New Jersey, eingeliefert, das von der katholischen Diözese Metuchen geleitet wird. Nailah sagte: „Ich hatte keinen Plan, keinen Ort zum Leben, nichts.“ Sie hatte einen Koffer gepackt. „Wenn es um mein Kind geht, bin ich wie ein Tier“, sagte sie zu mir. „Erst später fragte ich mich, was hab ich bloß gemacht?“

Das Children’s Hospital engagierte Sam Singer, Fachmann für Krisen-Intervention, der für den Umgang mit den Medien verantwortlich war, die über diesen Fall berichteten. „Der Haupteindruck in der Klinik war, dass sie sich im Belagerungszustand befanden“, sagte Singer zu mir. „Sie hatten keine Erfahrung damit, sich in einem schmutzigen Krieg zu befinden“. Zwei Tage nach Jahis Abreise meinte Singer (den der San Francisco Chronicle als Kenner der Materie bezeichnet) gegenüber einer Lokalzeitung: „Ich habe noch niemals eine solche Verleugnung der Wahrheit erlebt.“ Bei einer Pressekonferenz vor der Klinik sagte er, dass Dolan „eine Lüge“ in die Welt gesetzt habe. Eine sehr bedauernswerte Lüge. Jahi sei irgendwie noch am Leben. Das ist sie nicht. Sie ist tot gemäß den Gesetzen im Bundesstaat Kalifornien. Und auch nach jedem möglichen Glaubenssystem, das man sich vorstellen kann“.

Bioethiker stellten ebenfalls die Entscheidung der Familie in Frage. In einem Artikel in Newsday schrieb Arthur Caplain, Gründer und Leiter der Abteilung für Medizin-Ethik der Universität New York und vielleicht der bekannteste Bioethiker im Land: „Sie künstlich zu beatmen führt zur Verwesung des Körpers.“ Er sagte bei CNN: „Es gibt keine Aussicht, dass sie länger überlebt.“ In einem Interview mit USA Today sagte er: “Man kann eine Leiche nicht ernähren.“ Und „sie beginnt zu verwesen.“ Laurence McCullough, Professor für Ethik in der Medizin an der Cornell University kritisierte jede Klinik, die sie aufnehmen würde. „Was denken sie sich dabei?“, sagte er bei USA Today. „Es gibt ein Wort dafür: verrückt.“

Robert Truog, Leiter des Zentrums für Bioethik an der Harvard Medical School sagte, er sei besorgt über die Tonlage in den Medien. „Ich denke, dass die Bioethiker das Bedürfnis hatten, die herkömmliche Hirntod-Definition zu unterstützen bis zu dem Punkt, dass sie die Familie mit Geringschätzung behandelten, und ich fand das schrecklich“, sagte er mir. Truog war der Meinung, dass der soziale Hintergrund der Entscheidung der Familie nicht beachtet worden war. Afro-Amerikaner bitten zweimal so oft wie Weiße um lebensverlängernde Maßnahmen, sogar bei irreversiblem Koma – eine Einstellung, die wahrscheinlich aus der Angst vor Vernachlässigung herrührt. Eine umfassende Studie hat ergeben, dass schwarze Patienten wahrscheinlich weniger angemessene Behandlungen und Operationen bekommen als Weiße, unabhängig von ihrer Krankenversicherung oder Bildung, und mit größerer Wahrscheinlichkeit ungewollten medizinischen Eingriffen wie Amputationen ausgeliefert sind. Truog sagte: „Wenn dir ein Arzt sagt, dass dein Angehöriger tot ist, aber dein Angehöriger nicht tot aussieht, dann verstehe ich, dass du dich wieder einmal falsch behandelt fühlst wegen deiner Hautfarbe.“

Bis zu den 1960er Jahren war der Stillstand von Herzschlag und Atmung die einzige Art zu sterben. Die Vorstellung, dass der Tod des Gehirns eingetreten sei, setzte sich erst nach dem Einsatz der modernen Beatmungsgeräte durch, die zu dem Zeitpunkt als sogenannte „Sauerstoff-Behandlung“ bekannt war: Solange mit Sauerstoff angereichertes Blut das Herz versorgte, konnte es weiterschlagen. 1967 schrieb Henry Beecher, ein renommierter Bioethiker an der Harvard Medical School, an einen Kollegen: „Es wäre sehr wünschenswert daß ein Team der Harvard University zu einer subtilen Schlussfolgerung käme, bezüglich einer neuen Definition des Todes.“ Die Zahl der Patienten im anhaltenden Koma, die durch künstliche Beatmung am Leben erhalten werden, „nehme im Land immer mehr zu, und es gebe zahlreiche Probleme, denen man sich stellen müsse.“

Beecher stellte eine Kommission zusammen, zu der Männer gehörten, die einander schon kannten: zehn Mediziner, einen Rechtsanwalt, einen Historiker und einen Theologen. In weniger als sechs Monaten verfassten sie einen Bericht, den sie im „Journal of the American Medical Association“ veröffentlichten. Das einzige darin enthaltene Zitat stammte aus einer Rede des Papstes. Sie schlugen vor, dass die irreversible Zerstörung des Gehirns als Tod definiert werden sollte aus zwei Gründen: um die schwere Last, die auf Familien und Kliniken lastete, zu lindern, die eine nutzlose Versorgung von Patienten betrieben, die niemals wieder genesen könnten, und um der Tatsache gerecht zu werden, dass „überholte Kriterien für die Definition des Todes zu Kontroversen führen können bei der Gewinnung von Organen zu Transplantationszwecken“, ein Bereich, der sich sehr schnell entwickelt hatte; in den vergangenen fünf Jahren hatten Mediziner die jeweils ersten Transplantationen einer Bauchspeicheldrüse, einer Leber, einer Lunge und eines Herzens durchgeführt. In einer früheren Version des Textes wurde der zweite Grund eindeutiger benannt: „Es gibt einen großen Bedarf an Geweben und Organen von unumkehrbar komatösen Patienten, um die Gesundheit derjenigen wiederherzustellen, denen man noch helfen kann.“ (Dieser Satz wurde revidiert, nachdem der Dekan der Harvard Medical School geschrieben hatte, dass „der Beiklang dieser Aussage unglücklich ist.“)

In den zwölf darauf folgenden Jahren formulierten 27 Staaten ihre Todesdefinitionen um, damit sie mit der Harvard-Definition übereinstimmten. Tausende von Leben wurden jedes Jahr verlängert oder gerettet, weil für hirntot erklärte Patienten – eine Todesart, die letztendlich von Großbritannien, Kanada, Australien und den meisten europäischen Ländern übernommen worden war, jetzt als Organspender in Frage kamen. Der Philosoph Peter Singer beschrieb es als ein Konzept, das so „wünschenswert in seinen Auswirkungen ist, dass es undenkbar ist, es aufzugeben, und so zweifelhaft in seiner Begründung, dass man es nur schwer unterstützen kann.“ Der neue Tod war „eine ethische Entscheidung, die als medizinische Tatsache maskiert wurde“, schrieb er.

Juristische Zweideutigkeiten blieben bestehen – Menschen, die in einem Teil des Landes als lebend angesehen wurden, konnten in einem anderen Teil für tot erklärt werden – und 1981 schlug die President’s Commission for the Study of Ethical Problems vor, eine einheitliche Definition und Theorie des Todes zu finden. Ihr Bericht, der von der American Medical Association herausgegeben wurde, konstatierte, dass der Tod dann eingetreten ist, wenn der Körper aufhört, als „integriertes Ganzes“ zu bestehen. Auch wenn das Leben in einzelnen Zellen und Organen noch weiterbesteht, ist dieser Mensch nicht mehr am Leben, weil die funktionierenden Organe nur eine Ansammlung von künstlich erhaltenen untergeordneten Systemen sind, die sich unweigerlich desintegrieren. „Das Herz bleibt normalerweise innerhalb von zwei bis zehn Tagen stehen“, heißt es im Bericht.

Der Philosoph Daniel Wikler, der zum Team der Kommission gehörte und Professor in Harvard war und der erste Ethiker der Weltgesundheitsorganisation sagte mir, er denke nicht, dass die Todestheorie der Kommission durch die angeführten wissenschaftlichen Fakten bestätigt wurde. „Ich dachte, es war offensichtlich falsch, aber was soll’s?“, sagte er. Ich sah damals kein Problem“. Wikler sagte der Kommission, es sei logischer zu sagen, dass der Tod dann eintritt, wenn das Großhirn – das Zentrum für Bewusstsein, Gedanken und Gefühle, alles Funktionen, die eine Identität formen – zerstört ist. Diese Formulierung würde eine viel größere Gruppe von Patienten als tot bezeichnen, einschließlich derer, die noch selbstständig atmen konnten.

Trotz seiner Vorbehalte entwarf Wikler das dritte Kapitel des Berichts: „Understanding the „Meaning“ of Death“.“ Ich war sehr angespannt, und ich „frisierte“ den Text. Ich wusste, dass daran etwas falsch war. Ich ließ es so erscheinen, als ob es noch viel grundlegend Unbekanntes dabei gab und formulierte bewusst unscharf, damit niemand sagen konnte: ́Hey, euer Philosoph sagt, dies sei Unsinn`. Das dachte ich, aber aus dem, was ich schrieb, war das nicht ersichtlich.“

Als Jahi in New Jersey ankam, hatte man sie über mehr als drei Wochen nicht mehr künstlich ernährt, und ihre Organe versagten. Der Leiter der Notfall-Kinderstation von St. Peter`s vermerkte in ihrer Patientenakte, dass „keine Hoffnung auf eine Erholung des Gehirns bestehe“. Nailah sagte: „Ich hatte keine Ahnung. Ich dachte tatsächlich, sie könnte künstlich ernährt werden, und nach einer Tracheotomie würde sie aufstehen, und alles wäre gut.“ In der Cafeteria der Klinik bemerkte sie, dass andere Familien über sie tuschelten.

Ein Chirurg am St. Peter’s legte Jahi einen Beatmungsschlauch und eine Magensonde, wodurch sie mit Nahrung und Vitaminen versorgt wurde. Nailah, die die ganze Zeit über in der Klinik war, freundete sich mit einigen der Krankenpflegerinnen an, die ihr mitteilten, dass der Arzt, der die Tracheotomie durchgeführt hatte, von seinen Kollegen geschnitten wurde. Es waren Bemerkungen wie: “Du hast das tote Mädchen operiert?“ (Die Klinik reagierte nicht auf Anrufe zu diesem Fall; in Jahis Krankenbericht hatte ein Chirurg eingetragen, dass die Verwaltung von St. Peter’s ihrer Behandlung zugestimmt habe „ohne Zustimmung der Ärzte und Pflegenden“).

Nailah und Marvin waren in einem Haus untergebracht, das der Klinik gehörte, bis man ihnen nach drei Monaten sagte, sie müssten umziehen, um anderen Familien Platz zu machen. Sie fuhren mit dem Taxi zu einem Motel 6. In den folgenden drei Monaten blieben sie in billigen Hotels. Nailahs jüngste Tochter, Jordyn, zog bei ihrer Tante ein, und ihr Sohn Jose zog zu seinem Vater in Oakland. (Nailahs ältestes Kind war erwachsen und lebte allein.) Die Personalabteilung von „Home Depot“ rief Nailah immer wieder an, um nachzufragen, wann sie zurückkommen werde. „Ich weiß es nicht“, erwiderte sie. Schließlich riefen sie nicht mehr an. Nailah, die ihr Haus in Oakland besaß, sagte mir: „Ich fühlte mich, als ob ich aus meinem Land ausgesperrt wäre“.

Im März begann Jahis Zustand sich zu stabilisieren. Ihre Haut wurde elastischer, Gliedmaßen und Gesicht waren nicht mehr so angeschwollen, und ihr Blutdruck stabilisierte sich. In ihrer Krankenakte vermerkte der Arzt einfach: „status quo“. Keine Rehabilitations-Einrichtung war bereit, sie als Patientin aufzunehmen, darum blieb sie auf der Intensivstation der Klinik, und ihre Behandlungskosten wurden von Medicaid übernommen. Nailah sagte, dass die Kosten etwa einhundertfünfzigtausend Dollar wöchentlich betrugen. Gemäß den Statuten in New Jersey von 1991 in Bezug auf den Tod dürfen Versicherungen die Kostenübernahme nicht verweigern aufgrund „individueller persönlicher Überzeugungen“, was die neurologischen Kriterien für eine Todeserklärung betrifft. Alan Weisbard, Vorsitzender der Bioethik-Kommission, die das Gesetz erlassen hatte, sagte mir: „Ich dachte, wir sollten besser vorsichtig statt sicher sein.“

Weisbard hatte zuvor als stellvertretender Leiter der President’s Commission on Death gearbeitet, und ebenso wie Wikler hatte er ein ungutes Gefühl bei dem Ergebnis. Er sagte mir: „Ich meine, dass diejenigen, die intensiv über das Hirntod-Konzept nachgedacht haben, Menschen mit hohem IQ sind, die ihre kognitiven Fähigkeiten für sehr groß halten – Menschen, die davon überzeugt sind, dass die Fähigkeit zu denken, zu planen und in der Welt zu agieren, die Voraussetzungen sind, die ein sinnvolles Leben ausmachen. Aber es gibt eine andere Tradition, die dem Körper mehr Aufmerksamkeit schenkt.“ Der Begriff „Hirntod“ wurde von einigen amerikanischen Ureinwohnern, Muslimen und evangelikalen Protestanten abgelehnt, ebenso von orthodoxen Juden. Das Konzept wird auch in Japan skeptisch gesehen, zum Teil auch aufgrund von Misstrauen in die Medizin. Japans erste Herztransplantation 1968 führte zu einem nationalen Skandal – es war unklar, ob der Spender sich doch noch hätte erholen können, oder ob der Empfänger (der kurz nach der Transplantation starb), tatsächlich ein neues Herz gebraucht hätte – und danach wurde kein einziges Gesetz erlassen, das den Hirntod mit dem Tod eines Menschen gleichsetzte. Weisbard, ein religiöser Jude, sagte, er halte es nicht für richtig, „wenn Minderheiten eine Todesdefinition aufgezwungen würde, die gegen ihren Glauben und ihr elementares Empfinden verstößt.“

Nailah dachte immer wieder an ein Gespräch mit ihren Kindern ein Jahr zuvor. Sie hatte sie geneckt mit den Worten: „Ich werde mich um eure Angelegenheiten kümmern bis zu eurem Lebensende.“ Als ihr Sohn sich damit brüstete, dass er sie überleben würde, sagte sie im Scherz: „Ich werde an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden.“ Jahi hatte diesen Begriff noch nie gehört und fragte, was er bedeutete. „Es handelt sich um eine Maschine, die dich am Leben erhält“, erklärte Nailah. Sie sagte mir: „Das vergesse ich nie: Die anderen Kinder lachten, und Jahi sagte: Wenn mir etwas passieren sollte, sorge dafür, dass ich daran angeschlossen werde.“

In der St. Peter’s Klinik besuchte eine Musiktherapeutin alle paar Tage die Intensivstation. Sie stand neben Jahis Bett und spielte Schlaflieder und einprägsame Melodien auf einer Harfe. Nailah stellte fest, dass Jahis Herzschlag, der normalerweise schnell war, sich verlangsamte, wenn die Harfenistin spielte. Sie fragte sich, ob ihre Tochter die Lieder als beruhigend empfand.

Nailah sagte: „Ich wusste, dass Jahi „da“ war.“ Sie bat sie darum, verschiedene Körperteile zu bewegen. Bei einem Versuch, den Nailah mit ihrem Handy aufnahm, steht sie neben Jahis Klinikbett, ohne es zu berühren. Jahis Augen sind geschlossen, und der obere Teil ihres Bettes ist in einem 45 Grad-Winkel aufgestellt. Ihre Hände liegen auf aufgerollten Tüchern, um zu vermeiden, dass sie ihre Fäuste ballt. „Beweg deine Hand“, sagt Nailah. Zwei Sekunden später beugt Jahi ihre rechte Faust. „Sehr gut“, sagt Nailah. „kannst du deine Hand noch einmal bewegen? Beweg sie so, dass wir es sehen können. Beweg sie kräftig.“ Neun Sekunden später bewegt sie ihren Unterarm, dreht ihre Faust, lässt das Tuch fallen und bewegt ihre Finger. Ihr Gesicht ist dabei ausdruckslos und ruhig.

In einer anderen Video-Aufnahme fordert Nailah sie auf: „Tritt mit deinem Fuß.“ Jahis rote Bettdecke ist zurückgeschlagen und gibt den Blick auf ihre bloßen Füße und Fußgelenke frei. Nach 15 Sekunden bewegt sie ihre Zehen. „Versuch es noch weiter“, sagt Nailah. „Ich sehe, du hast deine Zehen bewegt, aber du sollst mit deinem Fuß treten.“ 25 Sekunden danach hält Jahi ihren rechten Fuß nach oben. „Ich bin so stolz auf dich“, sagt Nailah, beugt sich über das Bett und gibt ihr einen Kuss auf die Wange.

Sieben Monate, nachdem sie nach New Jersey gezogen waren, hatte Jahi ihre erste Menstruation. Sandra war gerade zu Besuch da, und sie bat den Arzt, Jahi ein Heizkissen und Motrin zu geben – alle Frauen in ihrer Familie hatten starke Krämpfe – und in der Krankenakte festzuhalten, dass sie das erste Mal ihre Periode hatte. Der Arzt sagte zu Sandra und Nailah, er könne nicht mit Sicherheit sagen, was die Ursache für diese Blutung sei. Nailah sagte zu ihm: „Das Blut kommt aus der Vagina eines jungen Mädchens, und nirgendwo sonst her. Fünf Tage lang – was denken Sie denn, was es sonst sein könnte? Gibt es eine andere Erklärung?“ Sandra berichtet, dass sie beide so aufgewühlt waren, dass der Arzt sie schließlich aufforderte: „Warum geht ihr beiden nicht einfach draußen im Park spazieren?“

Ende August 2014 wurde Jahi aus der Klinik St. Peter’s entlassen. Ihre Diagnose lautete: „Hirntod“. Sie zog in ein Apartment mit zwei Räumen, das Nailah und Marvin in einer unscheinbaren Wohnanlage in der Nähe von New Brunswick gemietet hatten. Sie schliefen auf Luftmatratzen auf dem Fußboden, und Jordyn, die gerade nach New Jersey gezogen war, wo sie in die erste Klasse kam, schlief auf der Couch. Jahi hatte das hellste Zimmer mit einem großen Fenster mit Blick auf den Park. Krankenpflegerinnen, die von Medicaid bezahlt wurden, betreuten sie rund um die Uhr in Acht–Stunden-Schichten. Alle vier Stunden half ihnen Nailah dabei, den Körper ihrer Tochter umzulagern. Eine von Jahis treusten Pflegerinnen heftete einen Zettel an die Wand ihres Schlafzimmers: „Bitte sprecht sie an, wenn ihr bei ihr seid. Sie kann euch hören! Sprecht klar, sanft und langsam. Niemand weiß, ob sie es versteht, aber allein eure beruhigende Stimme oder Berührung könnte helfen.“

Kurz nachdem die Familie dort eingezogen war, erschienen zwei Kriminalbeamte und eine Polizeistreife im Apartment. Die örtliche Kriminalpolizei (das Franklin Township Police Detective Bureau) hatte einen anonymen Hinweis bekommen, dass sich eine Leiche im Haus befände. Nailah führte die Kriminalbeamten in Jahis Zimmer und zeigte ihnen das Beatmungsgerät. Die Kriminalbeamten kamen zu dem Schluss, dass keinerlei Kriminalität vorlag, und verließen die Wohnung, aber die diensthabende Pflegerin war beunruhigt und kündigte. Monatelang war Nailah mit E-Mails per Facebook überflutet worden wegen angeblichen Missbrauchs oder weil sie ihre Tochter für Geld ausbeute. Unbekannte riefen eine Petition ins Leben auf „Change.org“ mit dem Ziel, dass „New Jersey nicht länger für die Versorgung einer Leiche zahlen soll auf Kosten der Steuerzahler“; in der Petition hieß es, dass Nailah eine sehr teure Geldbörse gekauft habe und teuren Wein, Beschuldigungen auf Grund von Fotos bei Instagram. Nailahs Rechtsanwalt Dolan sagte mir gegenüber: „Sie denken, sie sei einfach eine Schwarze, die den Sozialstaat ausnutzt.“

Nailah las immer öfter in der Bibel, und sie versuchte sich damit zu beruhigen, dass Gott sie dazu bestimmt hätte, dies alles zu ertragen, weil sie stark genug war. Auf ihrer Facebook—Seite beschrieb sie sich als „starke Schwarze“, die sich nicht um den Mist von anderen schert!“ Aber sie konnte nicht akzeptieren, dass dahinter ein göttlicher Plan stecken konnte. „Ich glaube nicht, dass dies Gottes Plan für das Leben meines Kindes war“, sagte sie.

Einen Monat nach Jahis Entlassung aus der Klinik gab es Unterstützung von der International Brain Research Foundation, ein Wissenschaftsprojekt, das neue Forschungen unterstützt und das Jahis MRI-Hirnscans an der Rutgers New Jersey Medical School bezahlte. Calixto Machado, Vorsitzender der Kubanischen Gesellschaft für klinische Neurophysiologie, flog nach New Jersey, um die Hirnscans auszuwerten. Machado hat mehr als 200 Studien zu Bewusstseins—Problemen herausgegeben und ist Vorsitzender eines Symposiums, das er alle vier Jahre leitet und an dem sich die weltweit besten Wissenschaftler zum Thema „Hirntod“ beteiligen. Er sagte: „Alle redeten über Jahi – Jahi hier, Jahi da — aber niemand kannte die neurologischen Fakten.“ Die Tatsache, dass Jahi ihre erste Menstruation hatte — ein Vorgang, der vom Hypothalamus gesteuert wird, der sich im vorderen Teil des Gehirns befindet, wies darauf hin, dass noch nicht alle neurologischen Funktionen erloschen waren.

Dolan saß in der Klinik neben Machado, als er sich zwei Computer-Aufnahmen von Jahis Kopf und dem oberen Teil ihrer Wirbelsäule ansah. In den seltenen Fällen, in denen hirntote Patienten künstlich beatmet werden, haben Neurologen über ein Phänomen namens „beatmetes Gehirn“ berichtet: Das Gehirn verflüssigt sich. Machado sagte, falls Jahis ursprüngliche Diagnose zutreffend sei und sie neun Monate keine Blutzufuhr zum Gehirn mehr hatte, erwarte er, dass sie kaum noch Gewebestrukturen in ihrer Schädelhöhle habe, außer Flüssigkeit und unkoordinierte Membranen.

Auf den Aufnahmen bemerkte Machado, dass Jahis Stammhirn fast vollständig zerstört war. Die Nervenfasern, die die rechte und linke Hirnhälfte miteinander verbinden, waren kaum noch zu erkennen. Aber große Bereiche ihres Großhirns, das Bewusstsein, Sprache und bewusste Bewegungen steuert, waren strukturell intakt. Dolan rief: „Sie hat ein Gehirn!“

Machado nahm auch einen Test vor, der die Interaktion zwischen dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem misst, eine Verbindung, die Schlaf und Wachsein regelt. Er setzte dabei drei experimentelle Versuchsanordnungen ein, eine davon bezeichnet er als „Mutter spricht mit dem Patienten“. Nailah stand neben ihrer Tochter, aber berührte sie nicht. „Hallo Jahi, ich bin hier“, sagte sie zu ihr. „Ich liebe dich. Wir alle sind stolz auf dich.“ Machado stellte fest, dass Jahis Herzschlag sich veränderte als Reaktion auf die Stimme ihrer Mutter. „Dies kommt bei hirntoten Patienten NICHT vor“, schrieb er.

Drei Tage nach dem Scan schickte Dolan einen Bericht von Machado an das Büro des Alameda County Coroner und bat darum, Jahis Totenschein zu annullieren, damit Nailah nach Kalifornien zurückkehren konnte, um Jahi dort behandeln zu lassen. Der Coroner und das Bezirks-Gesundheitsamt lehnten dies ab. „Jede Möglichkeit, um die Überzeugung des Gerichts, dass Jahi McMath hirntot ist, zu widerlegen, ist schon lange verstrichen“, schrieben die Rechtsanwälte.

D. Alan Shewmon, der kurz zuvor seinen Posten als Vorsitzender der Neurologie-Abteilung am Olive-View-U.C.A. Medical Center abgegeben hatte, las Machados Bericht und stellte sich die Frage, ob Jahi sich in einem Zustand befand, der zuerst von dem brasilianischen Neurologen C.G. Coimbra eingeführt worden war und als „ischämische Penumbra“ bezeichnet wurde. Coimbra stellte die These auf, dass dieser Zustand des Gehirns zu der Fehldiagnose „Hirntod“ bei Patienten führen könne, deren Hirndurchblutung derart verringert war, dass sie nicht durch die Standard-Tests entdeckt werden konnte. Wenn das Blut aber immer noch in bestimmte Bereiche des Gehirns floss, wenn auch langsam, dann könnte theoretisch noch eine Erholung in einem bestimmten Grad möglich sein.

Shewmon hatte bei ungefähr 200 Menschen den Hirntod diagnostiziert. Er ist maßvoll, förmlich und präzise. Als ich ihn fragte, was er von den Medienberichten halte, in denen stand, dass Jahis Tod kurz bevorstehe, schwieg er und sagte: „Ich lehne mich zurück und lasse die Entwicklung zu.“ Er lachte, lauter als ich es erwartet hätte, und sagte nichts mehr.

Zwei Monate nach Machados Tests flog Shewmon nach New Jersey und besuchte Jahi in ihrem Apartment. Er zog einen Stuhl neben ihr Bett und beobachtete sie, mit einem Notizbuch in der Hand, über sechs Stunden. Jahi reagierte nicht auf seine Anweisungen, ihre Arme und Beine zu bewegen, was er nicht sehr überraschend fand. Er hatte die Videos analysiert, die Nailah aufgenommen hatte, und diese deuteten darauf hin, dass sie sich in einem „minimalen Bewusstseinszustand“ befand, ein Zustand, in dem sich Patienten zeitweise oder vorübergehend ihrer selbst oder ihrer Umgebung bewusst sind. Er schrieb, dass ihr Zustand „eine gewisse Herausforderung darstellt, entweder dies abzulehnen oder zu bestätigen, weil die Wahrscheinlichkeit gering sei, dass sich Jahi während eines willkürlich gewählten Untersuchungstermins in einem „reaktionsfähigen“ Zustand befände.

Als Shewmon gegangen war, machte Nailah mehr Video-Aufnahmen. Sie hielt sich an Shewmons Anweisungen, ihre Tochter während der Aufzeichnungen nicht zu berühren und mit den Aufnahmen außerhalb von Jahis Zimmer anzufangen. Schließlich hatte Shewmon 49 Videos analysiert, in denen 193 Aufforderungen und 686 Bewegungen aufgenommen worden waren. Er schrieb, dass die Bewegungen „schneller nach der Aufforderung erfolgten, als man nach Zufälligkeits-Kriterien erwartetet hätte“, und „dass es einen eindeutigen Zusammenhang gibt zwischen den Körperteilen, die sich bewegen sollen, und dem folgenden Körperteil, der sich bewegt. „Dies kann kein Zufall sein“. Er schrieb, dass „die Bewegungen keine Reflexe sein können“ und dass in einem der Videos Jahi einen komplexen Grad an sprachlichem Begreifen aufwies. „Welcher Finger ist dein Stinkefinger?“, fragte Nailah. „Wenn du auf jemanden sauer bist, welchen Finger würdest du dann zeigen?“ Zwei Sekunden danach bewegte Jahi ihren linken Mittelfinger. Dann bewegte sie ihren kleinen Finger. “Nicht den“, sagte Nailah. Vier Sekunden später bewegte sie wieder ihren Mittelfinger.

James Bernat, Neurologe aus Dartmouth, der an der Entstehung der „Hirntod“-Theorie beteiligt war, die 1981 die Basis für den President’s Commission Report war, sagte mir, Shewmon habe ihm einige dieser Videos gezeigt. „Ich habe darüber noch nicht genau nachgedacht“, sagte er und fügte hinzu: „Bei Videoaufnahmen bin ich immer skeptisch wegen der Videos von Terry Schiavo.“ Deren Angehörige hatten Video-Aufnahmen veröffentlicht, die sie als einen Beweis für Bewusstsein präsentierten, aber die Videos waren zuvor bearbeitet worden und täuschten nur vor, dass sie den Menschen mit ihren Blicken folgte, obwohl sie blind war.* Bernat sagte: „Ich habe großen Respekt vor Alan, und wenn er etwas sagt, höre ich ihm genau zu.“ Er bezeichnete Shewmon als „den intellektuell ehrlichsten Menschen, dem ich je begegnet bin“.

Als Shewmon College-Student in Harvard war, hörte er Chopins Trois Novelles Etudes No.2 in seinem Schlafraum, und die Musik versetzte ihn in eine solche Ekstase, dass er ein Erweckungs-Gefühl hatte: Er glaubte nicht mehr, dass alle bewussten Erfahrungen, vor allem die Wahrnehmung von Schönheit, „einzig und allein ein elektro-physikalisches Phänomen sein sollten“, sagte er. Die Musik schien den Raum zu „entgrenzen“. Der Atheist konvertierte zum Katholizismus und studierte die Aristotelisch-Thomistische Philosophie. Ab 1971 studierte er Medizin mit dem Schwerpunkt Neurologie, weil er die Beziehung zwischen Bewusstsein und Gehirn verstehen wollte. In den darauffolgenden 15 Jahren glaubte er an den Hirntod und war ein Verfechter dieses Konzepts, aber zu Beginn der 90er Jahre wurde er immer kritischer diesem Konzept gegenüber. Als er sich engagierte bei dem, was er als „Sokratische Gespräche“ mit Kollegen bezeichnete, erkannte er, dass nur wenige Ärzte eindeutig sagen konnten, warum die Zerstörung eines einzigen Organs dem Tod gleichzusetzen sei. Meistens endeten sie mit dem Satz, „diese Patienten seien immer noch lebende biologische Organismen, aber hätten alle Fähigkeiten verloren, die sie menschlich machten“. Er dachte, diese Formulierung schien zu viel Ähnlichkeit zu haben mit der Vorstellung des „mentalen Todes“, den die Nazis sich zu eigen gemacht hatten, nachdem 1920 eine medizinische und juristische Publikation veröffentlicht worden war mit dem Titel: „Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ (von Karl Binding und Alfred Hoche; d. Übers.).

1992 bat man Shewmon um seinen Rat im Fall eines vierzehnjährigen Jungen, der, nachdem er von der Haube eines fahrenden Autos gefallen war, für hirntot erklärt worden war. Die Familie des Jungen war religiös und bestand darauf, dass die künstliche Beatmung fortgeführt wurde. Seine behandelnden Ärzte gaben dem Wunsch der Eltern nach, weil sie sicher waren, sein Herz würde bald zum Stillstand kommen. Er überlebte 63 Tage und kam dabei in die Pubertät. „Dieser Fall machte alles zunichte, was ich gelernt hatte in Bezug auf den umfassenden und sofort beginnenden Zerfall des Körpers bei Hirntod“, schrieb Shewmon später. „Dadurch war ich gezwungen, alles noch einmal zu durchdenken.“

Shewmon fing an, nach ähnlichen Fällen zu suchen, und er stieß auf 175 Fälle von Menschen, darunter viele Kinder oder Jugendliche, die über Monate oder Jahre noch weiterlebten, auch wenn sie juristisch tot erklärt waren. Der am längsten Überlebende war ein Junge, der für tot erklärt worden war, nachdem er im Alter von vier Jahren an Meningitis erkrankt war. Sein Herz schlug noch weitere 20 Jahre, ein Zeitraum, in dem er weiterwuchs und sich von kleineren Wunden und Infektionen erholte, obwohl er keine nachweisbaren Hirnstrukturen mehr aufwies und die äußere Schicht seines Gehirns verkalkt war. Im Jahr 1997 nahm Shewmon seine frühere Einschätzung zurück in einer Abhandlung mit dem Titel „Recovery from „Brain Death“: A Neurologist’s Apologia“(„Wiederherstellung nach „Hirntod“: Entschuldigung eines Neurologen“ Anm. d. Übers.). Shewmon widerrief seine früheren Ansichten. Er räumte ein, dass „Abweichler vom Hirntod-Konzept, typischerweise herablassend als Einfaltspinsel, religiöse Eiferer oder „Pro-Life-Fanatiker abgetan werden, “ und verkündete, dass er sich ihren Reihen angeschlossen habe.

Shewmons Forschung zu dem, was er als „chronisches Überleben“ nach Hirntod bezeichnet, führte zu einem neuen President’s Council on Bioethics im Jahr 2008, mit dem Ziel, die Todesdefinition erneut zu überprüfen. Der Bericht des Council berief sich 38 Mal auf Shewmons Forschung. Obwohl der Rat nachdrücklich die Gültigkeit des Hirntodes bekräftigte, gab er die biologische und philosophische Rechtfertigung auf, die von der President’s Commission 1981 angeführt worden war, nämlich dass ein funktionierendes Gehirn für den Körper als „integratives Ganzes“ notwendig sei. Stattdessen stand im Bericht, dass die Zerstörung des Gehirns dem Tod gleichzusetzen sei, weil dies bedeute, dass dieser Mensch nicht mehr imstande sei, „mit seiner Umgebung zu kommunizieren, eine Fähigkeit, zu der ein Organismus imstande ist und die jeden Organismus von nicht lebenden Dingen unterscheidet.“

In einer persönlichen Anmerkung am Schluss des Berichts drückte der Vorsitzende des Council, Edmund Pellegrino, sein Bedauern über den Mangel an empirischer Genauigkeit aus. Er schrieb, dass Versuche, die Grenzen des Todes zu definieren, in „einer Art Zirkelschluss“ enden“ – den Tod mit Begriffen des Lebens und das Leben mit Begriffen von Tod zu definieren ohne eine wirkliche „Definition“ des einen oder des anderen.

2015, nachdem Nailah ihre Steuererklärung abgegeben hatte, informierte ihr Steuerberater sie darüber, dass ihr Antrag von der I.R.S. (Steuerbehörde) abgewiesen worden war. Eine der „Sorgeberechtigten“, die sie aufgeführt hatte, war ja offiziell tot. „Ich stand völlig neben mir, jetzt muss ich diesem Mann erklären, was los ist – dass sie gemäß dem Landesgesetz lebt und gemäß dem Bundesgesetz tot ist“, sagte sie. Sie entschied sich, nicht gegen das I.R.S. zu kämpfen; sie war sich sicher, dass sie verlieren würde. „Es geht nicht ums Geld“, sagte sie mir. Es geht um das Prinzip: Hier ist ein Mensch, um den ich mich jeden Tag kümmere.“

Nailah verkaufte ihr Haus in Oakland, um ihre Miete in New Jersey zahlen zu können. Sie verließ ihre Wohnung fast nie. Sie war von Schuldgefühlen übermannt, weil sie Jahi dazu gedrängt hatte, sich die Mandeln herausnehmen zu lassen, und man stellte fest, dass sie unter Depressionen litt. „Ich sah regelmäßig die Werbung für Medikamente gegen Depressionen, bei der die Menschen aus dem Fenster starrten und sagten, sie könnten nicht rausgehen, und ich dachte, das sei lächerlich“, sagte sie mir. „Wer kann nicht nach draußen gehen? Wer kann nicht aus dem Bett kommen? Wo ich herkomme – lernt man zu überleben. Wenn du arm bist, wenn etwas schief läuft, kann man es immer noch schaffen. Aber dies ist eine Situation, an die ich mich nicht anpassen kann.“

Im Frühjahr 2015 erhob Nailah eine Klage auf Schadenersatz gegen das Oakland Children’s Hospital aufgrund von Jahis Falschbehandlung, ihrer Schmerzen und wegen der hohen Ausgaben für Medikamente. Die Klinik hielt dagegen, dass Leichen keine Klage einreichen könnten. „Die Kläger halten Jahis Körper mit allen Mitteln am Leben, anstatt sie ihren naturgemäßen Weg nach dem Tode gehen zu lassen“, schrieb der Rechtsanwalt der Klinik. „Es widerspricht dem öffentlichen Interesse, das Gesundheitswesen verantwortlich zu machen für sinnlose medizinische Eingriffe bei einer Toten.“

Dolan legte Video-Aufnahmen von Jahi vor und Erklärungen von Machado, von drei Ärzten aus New Jersey, die sie untersucht hatten, und von Shewmon, der zu dem Schluss kam, dass bei Jahi zum damaligen Zeitpunkt der Diagnose die Hirntod-Kriterien zutrafen, aber derzeit nicht mehr. Er schrieb: „Im Lauf der Zeit hat ihr Gehirn die Fähigkeit, elektrische Aktivität zu erzeugen, wiedererlangt neben der Fähigkeit, auf Anweisungen zu reagieren. Er beschrieb sie als „schwerstbehindertes, aber sehr lebendiges jugendliches Mädchen.“

Die Klinik beauftragte ihre eigenen Medizin-Experten. Thomas Nakagawa, der 2011 die Richtlinien für hirntote Kinder erstellt hatte, sagte, die einzig gültigen Kriterien für die Hirntod-Feststellung seien die, die in den Richtlinien genannt wurden. MRI-Scans, Analyse des Herzschlags, Video-Aufnahmen von ihren Bewegungen oder dass sie ihre Menstruation hatte, seien für die Kriterien nicht relevant. Sanford Schneider, Professor für Kinderheilkunde an der University of California in Irwine, bezeichnete Jahi als „Leiche“ und sagte vor Gericht, dass sie „auf verbale Anordnungen nicht reagieren kann, da sie keine Hirnfunktionen mehr hat, um Geräusche wahrnehmen zu können“, eine Schlussfolgerung, die auf einem Test basierte, der Jahis Aktivität der Hirnwellen maß im Zusammenhang mit verschiedenen Geräuschen. Schneider schrieb: „Es gibt keinerlei medizinische Möglichkeit, dass Jahi McMath sich von ihrem Tod erholt hat oder sich jemals erholen wird.“

Im Sommer letzten Jahres wies ein Richter des Alameda County Superior Court das Argument der Klinik zurück, „dass die Hirntod-Untersuchung von 2013 als endgültig für alle weiteren Zwecke angesehen werden muss.“ Er entschied, „dass in einem Verfahren geklärt werden muss, ob Jahi derzeit die Todesdefinition erfüllt.“ Bei einer Gerichtsverhandlung, die vermutlich einen Monat dauern wird, wird eine Jury entscheiden, ob Jahi am Leben ist.

Jahis Fall hat das zum Entladen gebracht, was Thaddeus Pope, Bioethiker an der Mitchell Hamline University School of Law als den „Jahi-McMath-Schatteneffekt“ bezeichnet: Eine zunehmende Zahl von Familien, von denen viele zu den ethnischen oder rassischen Minderheiten gehören, geht vor Gericht, um die Kliniken davon abzuhalten, ihren Angehörigen die künstliche Beatmung zu entziehen. In Toronto hat die Familie von Taquisha McKitty, einer jungen schwarzen Mutter, die nach einer Überdosis Drogen für tot erklärt worden war, argumentiert, sie könne nicht tot sein, weil sie ja noch ihre Menstruation hatte. In einer Anhörung vor Gericht im Herbst sagte ihr behandelnder Arzt, er habe gesehen, dass aus ihrer Vagina Blut kam, aber „niemand weiß, ob es Menstruationsblut war.“

Eine ähnliche Debatte entstand 2015, als eine College-Studentin aus Äthiopien, Aden Hailu, in einer Klinik in Nevada für hirntot erklärt worden war, nach einer Operation, in der man ihre Magenbeschwerden untersuchen wollte. Ein Bezirksgericht wies die Forderung ihres Vaters ab, sie weiter künstlich zu beatmen, der Supreme Court in Nevada wies die Entscheidung des Bezirksgerichts ab mit der Begründung, dass Aussagen von Fachleuten benötigt würden, um feststellen zu können, ob die standardisierten Hirntod-Tests „angemessen alle Funktionen des gesamten Gehirns überprüfen können.“ (Diese Anhörung fand nicht statt, weil Hailus Herz aufhörte zu schlagen.)

Pope sagte zu mir, dass „jede Extra-Stunde für die Pflege dieser toten Patienten nicht für die pflege anderer Patienten zur Verfügung steht.“ Er ist auch beunruhigt darüber, dass diese Debatten, die oft das Interesse der Medien wecken, dazu führen, dass sich weniger Menschen als Organspender registrieren lassen, eine Praxis, deren soziale Akzeptanz von der Vorstellung abhängt, dass die Patienten tot sind, bevor ihre lebenden Organe entnommen werden. Als ich meine Sorge ausdrückte, dass mein Artikel das Problem vergrößern könnte, sagte er, er könnte „sicherlich einen gewissen Schaden anrichten.“ Nach kurzem Überlegen meinte er dann: “Die Katze ist bereits aus dem Sack.“

Dolan, Nailahs Rechtsanwalt, registrierter Organspender, sagte mir, er habe Probleme mit den praktischen Konsequenzen, wenn er Jahi vertritt. „Ein Teil von mir sagt: Mist, wir könnten der Organspende schaden“. Wenn Familien in einer ähnlichen Situation sich an ihn wenden, erzählt er Nailahs Geschichte, um sie davon abzuhalten, genauso zu entscheiden. „Dies sehe ich als meine Aufgabe an“, sagte er.

Truog, Leiter des Zentrums für Bioethik in Harvard, berichtete davon, dass einmal, als er einen wissenschaftlichen Vortrag über den Hirntod hielt, er diesen als eine katastrophale Hirnschädigung beschrieb anstatt als Tod. Ein Transplantationsmediziner stand auf und sagte ihm: „Sie sollten sich schämen. Was Sie tun, ist unmoralisch: Sie säen Zweifel bei Menschen über einen Vorgang, der zahllose Leben rettet.“ Truog sagte mir: „Ich habe lange und intensiv darüber nachgedacht. Wenn es darum geht, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Wissenschaft zu stärken, dann denke ich, dass die Medizin auf lange Sicht besser damit fährt, wenn wir ehrlich und wahrhaftig sagen, was wir wissen.“

Er fuhr fort: „Ich denke, es ist nicht unethisch, dass wir diesen Menschen die Organe entnehmen, obwohl es keinen wissenschaftlichen Grund dafür gibt zu glauben, sie seien tot. Ich glaube, es ist ethisch gesehen gerechtfertigt und wir sollten es fördern. Wir tun das Richtige aus den falschen Gründen.“

Obwohl Jahi eine andere Form der Definition von Leben repräsentiert, ist ihre Familie sich nicht sicher, dass sie sie immer noch künstlich beatmen lassen würden, wenn sie noch die Voraussetzungen für den Hirntod erfüllen würde. Sandra sagte, dass bei Jahi, bevor die MRI-Hirnscans in der Klinik gemacht wurden, sie zu sich selbst sagte: „Wenn ihr Gehirn Gelee ist, müssen wir das akzeptieren. Ich glaube nicht, dass Menschen in diesem Zustand weiterleben sollten. Wenn sie tot sind, sind sie tot.“

Jahis Familie glaubt, dass sie erheblich mehr Gedanken hat, als sie ausdrücken kann, was auch Shewmon in Betracht gezogen hat. „Wenn man bedenkt, dass sie zeitweise reagiert,“ schrieb er in einem Gutachten für das Gericht, „sollte uns allen bewusst sein, dass wir nichts über ihr Inneres wissen in den Phasen, in denen sie keine Reaktionen aufweist, anstatt dies automatisch mit Bewusstlosigkeit gleichzusetzen. “Neuere Fortschritte bei bildgebenden Verfahren haben einige Kliniker zu der Auffassung gebracht, dass eine erhebliche Anzahl von Patienten bei denen man annahm, sie befänden sich im vegetativen Zustand – Patienten, die keine offensichtliche Wahrnehmung ihrer Umgebung und keine gezielten Bewegungen aufweisen – falsch diagnostiziert wurden; sie könnten zeitweise bei Bewusstsein sein und fähig zu einem gewissen Grad der Kommunikation.

Nailah sagte, dass sie Jahi beinahe täglich fragt: „Bist du einverstanden mit dem, was ich tue? Willst du leben? Hast du Schmerzen?“ Sie sagte: „Ich weiß, dass sich die Dinge ändern –Menschen verändern sich. Wenn Jahi aufgibt und nicht mehr leben will, tue ich, was sie will.“ Sie sagte, dass Jahi ihr antwortet, indem sie ihre Hand fest drückt oder ihren Zeigefinger Richtung Daumen bewegt, ein Zeichen für „ja“, das Nailah ihr beigebracht hat. „Wenn ich das sehe“, sagte sie, „denke ich: „Wer bin ich, dass ich nicht leben möchte?“ Denn an vielen Tagen möchte ich am liebsten tot sein. Aber dann sehe ich sie, wie sie jeden Tag ihr Bestes gibt.“

Im letzten Dezember besuchte ich Nailah in ihrer Wohnung, und sie sagte, sie habe wieder mehr Hoffnung. Sie war zuversichtlicher, dass das Gericht ihr erlauben würde, Jahi nach Haus in Oakland zu nehmen, obwohl der Gerichtstermin noch nicht feststand. Vor kurzem hatte sie Jahi gefragt, wie lange es wohl dauern würde. Sechs Monate? fragte sie. Ein Jahr? Eineinhalb Jahre? Jahi drückte ihre Hand nach der dritten Frage. Nailah verstand dies als ihre Antwort. „In meiner Vorstellung plane ich diese große Willkommen-Daheim-Party“, sagte mir Nailah. „Ich weiß, meine Stadt liebt uns wirklich sehr.“

„Hallo Mädchen, schläfst du, ober bist du wach?“, sagte Nailah zu Jahi, als wir in ihr Zimmer kamen. Jahi hatte einen rosafarbenen Schlafanzug an, und ihr Gesicht war klar und weich, aber angeschwollen, eine Nebenwirkung von Steroiden, die sie nehmen muss, damit ihr Blutdruck ansteigt. Sie hatte ihre Augen geschlossen. „Schläfst du? Das möchte ich wissen“, sagte Nailah. Sie ergriff Jahis Hand und umfasste sie. Jahis hatte ihre andere Hand auf den Bauch einer Puppe gelegt. Ihre Haare waren mit Bändern zu Zöpfen geflochten, wobei Nailah sich Sorgen darüber machte, dass sie immer dünner wurden. Stacey, eine Pflegerin, die sich im vergangenen Jahr um sie gekümmert hatte, stand an ihrem Fußende. Stacey hatte ihr am Morgen eine Sherlock Holmes-Geschichte vorgelesen.

Nailah sprach davon, wie sehr sie ihre eigene Mutter jetzt bewundere, die Jahi dreimal am Tag anrief, ihr etwas vorsang, mit ihr betete, ihr Familientratsch erzählte und sie über das Neueste von „The Golden State Warriors“ (Ein Basketballteam aus Oakland, Kalifornien; Anm. d. Übers.) informierte. Stacey unterbrach: „Sie bewegt ihre Hand über dem Baby“.

Jahis Zeigefinger und Mittelfinger hatten sich um etwa zwei Zentimeter gehoben und bewegten sich vom Bauch der Puppe zum Brustkorb. „Gut gemacht“, sagte Stacey.”Gut gemacht, Jahi!“

Kannst du deinen Zeigefinger auf dem Baby bewegen?“ fragte Nailah.

Jahis Fingernägel, von Nailah pink bemalt, bewegten sich nicht.

„Sie ist dein Baby“, sagte Nailah und zeigte auf die Puppe. „Das ist mein „Enkelbaby“, sagte sie lachend.

Jahis Daumen zitterte.

„Nicht deinen Daumen, nimm deinen Zeigefinger“, sagte Nailah. „Ich weiß, dass du das kannst.“

Einige Sekunden danach wackelte Jahis Mittelfinger. Sie hob ihn kurz hoch und ließ ihn dann wieder sinken.

„Na bitte“, sagte Nailah. „Danke.“

Daniel Wikler, Philosoph in Harvard, sagte zu mir, er vermute, dass Jahis Familie unter dem „folie à famille“ leiden könnte, einem seltenen Zustand, bei dem eine Selbsttäuschung von allen Mitgliedern der Familie geteilt wird. Mich erinnert das sofort an eine ähnliche Reaktion beim Tod eines Kindes: Wer würde nicht Trost darin finden wollen in der Vorstellung, dass der Geist des Kindes erhalten bleibt? Es erschien mir so einleuchtend zu sein, dass ich befürchtete, ich könnte auch falsche Schlüsse ziehen aus Bewegungen, die fast zu unmerklich waren, um sie wahrzunehmen. Doch wenn man alles zusammen betrachtete, schien es unwahrscheinlich zu sein. Jahis Ärzte und Pfleger schienen auch alle zu einer anderen Ansicht gekommen zu sein. Auf Nailah Handy-Aufnahmen, in denen die letzten vier Lebensjahre ihrer Tochter festgehalten sind, kann man mehrere Pflegerinnen und Pfleger hören, wie sie Jahi dazu beglückwünschen, dass sie es geschafft hat, einen Fuß oder einen Finger zu bewegen.

Jahis kleine Schwester, Jordyn, war ebenso engagiert. Ein drahtiges Mädchen, das abgetragene Jeans trug und „Day-Glo-high-top-sneakers“, ging in das Zimmer ihrer Schwester, sobald sie aus dem Schulbus gestiegen war. In Oakland hatten sie und ihre Schwester ein Zimmer geteilt, und jetzt lag sie gern im Bett mit ihrer Schwester; manchmal schminkte sie dann ihre Lippen oder kremte ihre Beine mit einer Lotion ein. Jordyn war ungebärdig in der Schule, und Sandra machte sich Sorgen, ob ihr Fehlverhalten ein Ausdruck für ihre Entfremdung von zu Hause war. Einmal, als Jordyn neidisch zu sein schien auf die Liebe, die auf ihre Schwester gerichtet war, fragte Nailah: „Glaubst du, dass deine Schwester dies auch für dich tun würde?“ Jordyn sagte ja. „Das ist der Grund, warum wir alles für sie tun“, sagte ihr Nailah.

Jordyn hat gelernt, wenn sie im Zimmer ihrer Schwester reden will, muss sie sich auf dieselbe Seite des Bettes stellen wie ihre Mutter. „Jahi mag es überhaupt nicht, wenn zwei Leute über ihr Bett hinweg reden“, sagte Nailah. „Ihr Herz schlägt dann schneller.“ Es macht Jahi nervös und aufgewühlt, sagte Nailah, wie Luft behandelt zu werden. „Sie hört bei jedem Gespräch zu – sie hat ja auch keine Wahl“, sagte sie. „Ich wette, sie kennt einige Geheimnisse, die sie uns erzählen könnte.“ Sie strich über Jahis Haare. „Weißt du, wie es ist, wenn man manchmal irgendwo still dasitzt und sich vorstellt, man wäre irgendwo anders? Ich sage immer: „Jahi, eines Tages möchte ich alles wissen, was du weißt, und alle Orte kennenlernen, wo du gewesen bist.

*Bobby Schindler, Terri Schiavos Bruder, wendet dagegen ein, dass obwohl eine Autopsie bestätigte, dass sie zum Zeitpunkt ihres Todes blind war, sei es unklar, ob sie blind war, als das Video aufgenommen wurde.


Der englische Originalartikel erschien im “The New Yorker” in der Print Ausgabe vom 05. Februar 2018 mit der Überschrift “Die Todes Debatte”.

Den englischen Originalartikel finden Sie online bei “The New Yorker“: https://www.newyorker.com/magazine/2018/02/05/what-does-it-mean-to-die

Die Deutsche Übersetzung: Renate Focke für KAO

Rachel Aviv
Rachel Aviv

Rachel Aviv kam 2013 als Staff Writer zu The New Yorker. Sie schrieb für die Zeitschrift eine Reihe von Themen, darunter medizinische Ethik, Strafjustiz, Bildung und Obdachlosigkeit. Sie war Finalistin des National Magazine Award for Public Interest des Jahres 2018 für „The Takeover“, eine Geschichte über ältere Menschen, denen ihre gesetzlichen Rechte entzogen wurden, und sie gewann den Scripps Howard Award 2015 für „Your Son Is Deceased“, eine Geschichte über Polizeischüsse in Albuquerque. Ihr Schreiben über psychische Gesundheit wurde mit einem Rosalynn Carter-Stipendium, einem Preis des Erikson-Instituts für hervorragende Leistungen in den Medien für psychische Gesundheit und einem Preis der American Psychoanalytic Association für herausragende Leistungen im Journalismus ausgezeichnet. Sie unterrichtete Kurse im Bereich der narrativen Medizin am Columbia University Medical Center und am City College von New York. 2010 erhielt sie einen Autorenpreis der Rona Jaffe Foundation. Sie ist Stipendiatin in New America.